Coburger Steinweg

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern #21

86 Delikte an 52 Wochenenden und geschätzten 100 000 Besuchern im Jahr 2016 in einem Bereich von etwa 300 Metern mit etwa 20 Kneipen, Clubs und Lokalen zwischen
0 und 6 Uhr früh. Eigentlich sagen die Zahlen alles.

Aber eigentlich geht es eben nicht um diese Zahlen, es geht auch nicht um Sicherheit, nicht um die Anwohner, nicht um die Polizei, eigentlich nämlich geht es nur um das Eine: Warum wird auf den Steinweg alle Jahre wieder eingeprügelt? Kann es sein, dass man das ungeliebte Kind eigentlich am liebsten loshätte?

Ein Verdacht von Wolfram Hegen.

Pawlow

Gefährlich wird es immer dann, wenn die Lösung schon um die Ecke kommt und freundlich aber bestimmt „Hallo“ sagt, obwohl das Problem noch gar nicht zu Ende gesprochen hat. Noch gefährlicher, wenn die Lösung eines Problems ganz einfach klingt, verständlich für jedermann ist, hübsch verpackt, und man gerne sofort „Ja, Du hast absolut Recht“ zu ihm sagen möchte. „Videoüberwachung“ ist so eine einfache Lösung. „Du, schau mal“, sagt die Lösung, „wenn sich jemand beobachtet fühlt, reißt er sich zusammen, oder?“ Klingt logisch, ist es aber nicht. Ein Mensch im Rausch und Rage denkt nicht mehr, schon gar nicht an Kamera. Ein Zweiter sucht sogar bewusst die öffentliche Wirkung seiner Tat. Ein Dritter zieht sich eine Kapuze über den Kopf. Ein Video also dient nicht zur Abschreckung. Nur zur Aufklärung. Die Aufklärungsquote aber liegt dank der guten Polizeiarbeit ohnehin so hoch wie nie. Warum also Videoüberwachung? „Du, schau mal“, sagt die andere Lösung, „wenn wir einfach früher zumachen, passiert auch weniger“. Klingt logisch, ist es aber auch nicht. Aber lassen wir doch erst einmal das vermeintliche Problem zu Wort kommen.

Machtvakuum

Zwischen 80 und 90 Delikte pro Jahr im Steinweg an allen Wochenenden 2016 nachts zwischen 0 und 6 Uhr zusammen, nun ja, würde man als neutraler Beobachter sagen, bei geschätzten 100 000 Menschen pro Jahr im Steinweg sind das 0,08 Prozent Zwischenfälle. Bei allem ehrlichen Bedauern um jeden einzelnen Zwischenfall: Sind wir uns einig, dass das überschaubar klingt? Dennoch fordert die Polizei ein früheres Ende des Nachtlebens, damit der Steinweg wieder sicher wird. Seit der Sperrzeitverkürzung 2005 nämlich seien die Deliktzahlen gestiegen. Umkehrschluss der Polizei also: Kommando zurück. Die Ordnungshüter vertreten damit handfeste und nachvollziehbare Eigeninteressen: Sie haben zu wenig Personal. Da würde es helfen, wenn der Tag schon um 3 Uhr früh endet und nicht erst um 5 oder 6. Aber bei allem Verständnis – es kann nicht sein, dass die Polizei Stadtentwicklung macht. Die Polizei hat die Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen. Die aber wird mehr und mehr der Security vor Ort überlassen. Deren Macht aber ist beschränkt. Die Polizei dagegen kann im Steinweg Präsenz zeigen. Das schreckt ab. Die Polizei kann im Steinweg Personen kontrollieren. Das schreckt ab. Sie also kann einen guten Teil zur Lösung des vermeintlichen Problems beitragen. An der Ursache aber kann sie nichts ändern: viele Menschen auf engem Raum mit viel Alkohol. Jetzt mal ehrlich, liebe Väter und Großväter: Wie war das früher in den rauchgeschwängerten Wirtshäusern, auf den Schützen- und Volksfesten, in den Clubs und Diskotheken der Umgebung. Egal um welche Uhrzeit. War da immer alles friedlich? Also. Wer aber wären eigentlich die Verlierer der vermeintlichen Lösung eines angeblichen Problems?

Horror

Seit der Sperrzeitverkürzung auf 5 bis 6 Uhr früh im Jahr 2005 tobt die Party mehr und mehr in der Innenstadt, vor allem eben im Steinweg. Dort sind viele der Clubs und Bars. Dorthin geht man heute, die großen Diskotheken auf dem Land sind nicht mehr zeitgemäß, viele haben geschlossen, seit sie nicht mehr die einzige Alternative fürs Partyvolk sind. Dorthin aber sind früher junge Menschen in ihren Golfs, Kadetts, Polos und 3ern hingefahren, weil ihnen das Leben in der Stadt zu öde war. Für nicht wenige endeten diese Fahrten am Baum. Discounfälle waren traurige Tagesordnung. Horrorszenarien für die Betroffenen, die Familien, die Einsatzkräfte. Die Zahl der nächtlichen Unfälle mit zwei, drei, vier und mehr getöteten oder ihr Leben lang verstümmelten jungen Menschen und traumatisierten Eltern aber hat sich drastisch reduziert. Auch wegen einer anderen Feierkultur hin zum Leben in der Stadt. Das ist eine wundervolle Nachricht. Wer heute also nach längeren Sperrzeiten ruft, riskiert das Leben von einigen Mädchen und Jungen aus der kommenden Generation. Wo nämlich sollten hier diejenigen hin, die länger feiern möchten? Nach Erlangen zum Beispiel. Die Stadt wird zwar oft von Befürwortern längerer Sperrzeiten als positives Beispiel angeführt, weil der Innenstadtkern dort um 2 Uhr die Pforten schließt. Erlangen verfügt aber in der Stadt über eine Vielzahl an Clubs, die mehrmals wöchentlich bis früh um 5 Uhr offen haben. Da muss man dann eben hinfahren, mitten in der Nacht, mit ein paar Freunden im Auto…

Knieschuss

Am ärmsten dran sind in dieser Diskussion die Anwohner im Steinweg. Sie können eigentlich nur verlieren. Aktuell leiden sie vor allem am Wochenende an Lärm bis in die frühen Morgenstunden, ver-schmutzten Hauseingängen, Bierflaschen auf dem Pflaster und dem Gefühl der Unsicherheit (doch auch hier bei allem Verständnis: Wer nach 2005 und gerade in den letzten Jahren in den Steinweg gezogen ist, wusste schon, auf was er sich einlässt). Klar, dass viele einfach mal wieder ruhig schlafen möchten, sich nach mehr Ordnung, Sauberkeit und Sicherheit sehnen. Und klar, dass man einer einfachen Lösung gerne zustimmt und es befürwortet, wenn die Kneipen und Clubs schon um 3 oder sogar um 2 Uhr dichtmachen. Dann wird es angenehmer zum Wohnen, Leben und Schlafen im Steinweg, weil dann vielleicht auch der eine oder andere Club zumacht. Dann öffnet vielleicht auch das eine oder andere gepflegte Straßencafé seine Türen und schließt sie um 18 Uhr wieder. Dann ziehen vielleicht auch mehr anständige gutangezogene und wohlerzogene Mieter ins Viertel, die früh um 6 Uhr ins Büro müssen und nicht erst von der Party nach Hause kommen. Dann aber werden manche Anwohner von heute nicht mehr im Steinweg wohnen, weil sie ihn sich dann nicht mehr leisten können oder wollen. Dann werden auch weniger Gastronomen im Steinweg ihr Geld verdienen, sie werden auch kein Personal mehr beschäftigen können. Die sogenannte Gentrifizierung ist ja nichts Neues. Auch in Coburg. Und das Räumkommando rollt.

Das Räumkommando rollt. Clubs werden schließen, teure Wohnungen werden entstehen, ein Stadtviertel wird verschnöselt.

Schmuddelkinder

Der Steinweg und vor allem seine Umgebung nämlich sind die übriggebliebenen Schmuddelkinder in der Stadt. Sanierungsbedarf, ältere Bausubstanz, Brachen, Leerstand. Das passt nicht mehr Coburg, das sich hübsch herausgeputzt hat in den letzten Jahren. Zuletzt die Ketschenvorstadt. In den nächsten Jahren also wird das Sanierungsgebiet VII umgepflügt. Zweistellige Millionenbeträge sollen in das Viertel fließen. Dann werden auch zeitgemäße Anlagen entstehen wie altersgerechtes Wohnen, barrierefrei, ruhig, ein bisschen Grün drum herum. Ein schönes ruhiges hübsches Viertel soll entstehen. Eine Partymeile passt nicht in ein solches Konzept. Und so prügelt man in schöner Regelmäßigkeit auf den Steinweg ein, verbreitet Angst-und-Schrecken, spricht auch mal von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Das ist billiger Populismus, aber nichts Neues in der politischen Kultur der Stadt: Mit schnell zusammengezimmerten Zahlen über mögliche Baukosten hat man schon das Globe-Theater als mögliche Ausweichspielstätte für das Landestheater beerdigt. Jetzt hat das Konzept den Deutschen Holzbaupreis gewonnen. Was also hätte man da für ein Schmuckstück haben können, das weit über die Grenzen Coburgs hinaus Strahlkraft gehabt hätte? Was hätte das Globe langfristig (hätte man es mal durchgerechnet) für Geld einspielen können, hätte man es doch auch nach der Sanierung des Landestheaters als einmaliger Konzert-, Party- und Veranstaltungsraum nutzen können. Für Jung und Alt gleichermaßen. Und jetzt dasselbe Spiel: Wieder müssen Zahlen herhalten, dieses Mal um eine angeblich ausufernde Sicherheitslage zu belegen. Wenn die Sperrzeiten aber verlängert werden, dann ändert sich eben nicht nur die Sicherheitslage, es ändert sich das ganze Viertel: Clubs werden schließen, teure Wohnungen werden entstehen, ein Stadtviertel wird verschnöselt. Mit dem heutigen Steinweg wird es dann nicht mehr vergleichbar sein. Viele werden sagen, Gottseidank. Andere, schade drum, Coburg wird zur Puppenstube.

Potemkin

Mehr ältere Menschen, mehr Eigentum, höherer Lebensstandard, das heißt auch mehr Bedarf an Sicherheit, am Bewahren des Geschafften, am Erhalten, an Sauberkeit, Ordnung und Ruhe. Das ist der normale Lauf der Dinge. Aber Junge und Junggebliebene, Andersdenkende, Anderslebende bleiben in dieser Welt mehr und mehr auf der Strecke. Weil es immer weniger von ihnen gibt, und weil eine nur schicke, saubere, ordentliche, teure, schöne Stadt, eine nicht mehr vielfältige, sondern im wahrsten Sinne des Wortes einfältige Stadt auch keine jungen Menschen mehr anzieht. Junge Menschen nämlich wollen im besten Fall die zu Tode zitierte „gefühlte Großstadt“ aus dem Integrierten Stadtentwicklungskonzept von Prof. Ackers aus dem Jahr 2008. Zu einer gefühlten Großstadt gehören Reibungspunkte, gehören Gegensätze. Die würde man opfern. Wer erleben will, wie selbst eine um ein vielfaches größere Metropole zur Provinz verkommt, dem sei ein Blick in die Bayerische Landeshauptstadt empfohlen und ein Artikel in der SZ vom Mai unter der Überschrift „Mia san mia? Nein, blöd san mia“. In diesem stellt ein gebürtiger Münchner, der 25 Jahre seines Lebens auch dort verbracht hat, seiner Heimat ein vernichtendes Urteil aus: „München ist eine Theaterkulisse auf den Schultern von sechs DAX-Konzernen. Die Schleuser hierher nennen sich Headhunter. Sie haben eine Karriere- und Schlafstadt geschaffen, in die unentwegt Menschen kommen, um Geld zu verdienen und am Wochenende wandern zu gehen.“ Ja, eine Stadt lebt von gutgehenden Unternehmen, die Steuern in die Stadtkasse spülen. Ja, das ermöglicht Wohlstand, Infrastruktur, einen gehobenen Lebensstandard. Aber zu einer echten Stadt gehört eben auch das junge, laute, bunte, manchmal dreckige, unangepasste Leben wie die Majo auf die Pommes. Das ist Vielfalt statt Einfalt. Und noch hat Coburg seine Schmuddelkinder. Man sollte aufhören, auf sie einzuprügeln.

Zu einer echten Stadt gehört auch das junge, laute, bunte, manchmal dreckige, unangepasste Leben wie die Majo auf die Pommes.

    3 Rückmeldungen

    1. Patrick

      Richtig gut geschrieben und ich kann dem nur zustimmen ich war auf der Podiumsdiskussion bezüglich des Steinwegs und muss sagen das man richtig gemerkt hat das einigen die dollerzeichen in den Augen zersplittert sind als unser OB meinte er wäre kein Freund von der sperrzeitverlängerung und eine Video Überwachung wäre zu teuer. Jedoch muss ich sagen die Podiumsdiskussion war auch ein Reinfall da keine 100%ige Bilanz gezogen werden konnte Bericht der Polizei war unvollständig und ein runder Tisch mit Polizei hat erst eine Woche später statt gefunden. Dennoch muss ich sagen wenn gastro Anwohner Einzelhandel Politik und Eigentümer an einem Strang ziehen würden und nicht die einen die anderen kaputt machen wollen würden könnte man alles schaffen

    2. oliver hienz

      das ist ein sehr guter artikel meiner meinung nach ich bin zwar schon 38 bin aber regelmäßig und schon lange im steinweg unterwegs und kann mich auch noch daran erinnern wie im steinweg tote hose war…
      alle die ruhig wohnen wollen haben ja wirklich genug Möglichkeiten in und um coburg herum am Stadtrand oder wo auch immer
      wir haben mittlerweile ca 5000 Studenten hier und viele große firmen wo nicht nur ältere leute arbeiten
      zu einer kompletten stadt gehört auch ein ausgehviertel
      wie der steinweg
      die alternative wurde im artikel genannt die jungen leute setzen sich unter drogen oder alkoholeinfluss ans steuer und gefährden ihr eigenes und auch das leben anderer Verkehrsteilnehmer
      soll das die lösung sein das wäre wirklich traurig und es kann doch nicht sein das es nicht möglich ist 2 polizisten und 2 angestellten vom ordnungsamt die ganze nacht streife laufen zu lassen
      und jetzt komme ich zum Abschluss meines textes
      DIE JUGEND IST DIE ZUKUNFT
      diese sollte die stadt coburg nicht verscheuchen

      ich entschuldige mich für nicht beachtete Rechtschreibung und satzseichen….

    3. Uli

      Genauso ist es und deswegen kann ich nur sagen, laßt die jungen leute ihren Freiraum, ab und zu muß man sich auch ein bißchen austoben können.

    Hinterlassen Sie ein Kommentar

    9 + 19 =