Grenzerfahrungen: Sternenkinder #57

Von Gabi Arnold | Fotos: Val Thoermer

Wenn das Leben endet, bevor es begonnen hat

Es gibt Ereignisse, die das Leben komplett verändern, von einem Tag auf den anderen. Die Welt scheint stillzustehen und nichts wird mehr so sein wie zuvor. Für Sandra und Marco Wagner ist der 28. August 2010 ein einschneidendes Datum. An diesem Samstag werden ihre Zwillinge zu früh geboren.

Romy und Lenny sind Wunschkinder. Dreieinhalb Jahre warten die Eltern vergeblich auf ein Kind. Dann wenden sich Sandra und Marco Wagner an ein Kinderwunschzentrum. „Es war nicht einfach, das, was eigentlich ein Akt der Liebe zwischen zwei Menschen ist, in die Hände eines Mediziners zu geben“, erinnert sich Sandra Wagner. Wir treffen uns bei Wagners zu Hause im Seßlacher Stadtteil Hattersdorf. Sandra Wagner strahlt Ruhe und Wärme aus. Sie erzählt ihre Geschichte ruhig, nur selten ringt sie um Fassung.

Zwei pumpende Herzen

Die künstliche Befruchtung klappt sofort. Wagners sind überglücklich, als sie bei der Ultraschalluntersuchung zwei pumpende Herzen sehen. „Ich hatte immer das Gefühl, ein Mädchen und einen Jungen zu bekommen. Dieses Band zu den Zwillingen war immer da“, sagt Sandra Wagner. Die Nebenwirkungen, die eine Schwangerschaft mit sich bringt, stören sie nicht. Die 28-Jährige schwebt im siebten Himmel. Sie freut sich auf die Kinder, spricht mit ihren Babys und singt ihnen vor.

Ab der 17. Schwangerschaftswoche wendet sich das Blatt. Die werdende Mutter nimmt immer häufiger wahr, dass ihr Bauch hart wird und sie Atemnot bekommt. Sie kontaktiert ihre Gynäkologin und spricht mit ihrer Hebamme. Es gibt keine auffälligen Ergebnisse. Auch die Feindiagnostik in der 20. Schwangerschaftswoche ist ohne Befund. Sandra spürt dennoch, dass die Symptome keine normalen Schwangerschaftserscheinungen sind. „Meine Schwangerschaft war anders als die meiner Freundinnen“, sagt sie. Die Beschwerden nehmen stetig zu. Wenn sie nur wenige Meter läuft, spürt sie, wie ihr Bauch steinhart wird. Sandra schont
sich, legt die Beine hoch und ruht sich aus.

„Ich habe gedacht, ich bin in einem Horrorfilm. Ich habe gezittert, geweint, getobt und ich habe gefleht, dass sie alles Menschenmögliche machen sollen, um die Kinder zu retten.“

Die Geburt

Die 28-Jährige ist in der 23. Schwangerschaftswoche – der Bauch der Zwillingsmama ist bereits rund – als sie schon morgens mit einem harten Bauch aufwacht. „Es war nichts Neues, ich hatte zu der Zeit ständig einen harten Bauch“, sagt sie. Sandra spürt, wie immer, das Leben in sich; die Babys sind putzmunter und strampeln. Den Tag verbringt sie auf dem Sofa, gegen 15 Uhr geht es ihr zunehmend schlechter. Beunruhigt googelt sie nach den Suchbegriffen: „Bauchschmerzen“, „Zwillinge“ und „23. Woche“. Sie erfährt, dass sie unbedingt in den Kreißsaal muss, wenn sie dreimal in der Stunde einen harten Bauch spürt. „Mir ist das Herz in die Hose gerutscht, mein Bauch war schon dreimal in zehn Minuten hart.“ Jetzt ist klar: Die Wehen haben begonnen. Sie verständigt ihren Mann und beide fahren sofort ins Klinikum.

Sandra erinnert sich an jedes Detail ihrer Fahrt ins Krankenhaus. Um 16.40 Uhr kommt eine Wehe, eine Minute später folgt die nächste. Die Wehen setzen jetzt minütlich ein. Im Kreißsaal angekommen, ist der Muttermund vollständig geöffnet. Es ist nicht mehr möglich, die Geburt zu stoppen. Die Kinder werden auf die Welt kommen. „Ich wollte das nicht glauben, ich war verzweifelt“, sagt sie. Sandra soll die Kinder auf natürlichem Wege zur Welt bringen. Das bedeutet, dass die Zwillinge aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überleben werden, da die Organe der Zwillinge in diesem Schwangerschaftsstadium nicht ausgereift sind und die Lungenreife fehlt.

Schließlich entscheidet man sich für einen Kaiserschnitt. Die Überlebenschancen der Kinder steigen zwar nur minimal, aber Sandra ist überzeugt, dass ihre Kinder es schaffen werden. „Sie waren immer stark, gut entwickelt und ihrer Zeit voraus“, sagt sie. In der Gewissheit, dass ihre Kinder gerettet werden, schläft die junge Mutter ein. In ihren Träumen ist alles gut, Romy und Lenny leben. Die Welt ist schön. Während sie schläft, wird Lenny mit 605 Gramm geboren, seine Schwester Romy kommt eine Minute später mit 510 Gramm zur Welt – nach 22 Wochen und drei Tagen.

Nach zwölf Stunden Schlaf wird Sandra von ihrem Mann geweckt. Sie möchte nicht aus ihren schönen Träumen erwachen, aber die Realität holt sie ein. „Nach dem Aufwachen war meine Tochter tot und mein Sohn kämpfte ums Überleben.“ An ihrem Bett steht ihr verzweifelter Mann. „Er sagte, dass wir jetzt entscheiden müssen, was mit Lenny passiert.“ Der Junge müsse intensivmedizinisch behandelt werden, um am Leben zu bleiben. Diese Entscheidung nimmt Lenny seinen Eltern ab – 13 Stunden nach der Geburt hört auch sein Herz auf zu schlagen. Er stirbt in den Armen seines Vaters. Sandra Wagner hat das Geschehen aus vielen Puzzleteilen rekonstruiert.

Sie hat „Millionen Male“ die Geburt Revue passieren mlassen. Sie möchte ihre toten Babys nicht sehen, sie hat Angst, dass sie den Anblick nicht ertragen könne. Eine Hebamme und ihr Mann ermutigen sie dazu, sich von ihren Kindern zu verabschieden. „Du musst keine Angst haben, sie sind wunderschön“, sagt ihr Mann. Die junge Mutter wird durch endlose Gänge in einen Raum geschoben. „Dann kam die Hebamme auf mich zu, auf dem Arm zwei Babys, zwei Engel, eingewickelt in Babydecken. Sie lagen so friedlich da und waren perfekt. Es waren die schönsten Kinder.“ Zum Abschied singen die Eltern ihren Kindern noch ein letztes Mal das Kinderlied „La-Le-Lu“ vor.

Damals weiß Sandra nichts über Sternenkinder. Sie weiß nicht, dass man mit den Babys Zeit verbringen kann, sie baden, anziehen, mit nach Hause nehmen und fotografieren lassen kann, bevor sich die Familie verabschiedet.

„Deswegen sage ich immer den Sternenmamas, dass sie keine Beruhigungsmittel nehmen sollen. Dass sie den Abschied bewusst erleben sollen, weil das so wichtig ist.“

Eine neue Zeitrechnung beginnt

Für die Wagners beginnt mit der Trauerzeit ein neues Leben. Materielle Dinge werden unwichtig. Sandra, die ehemalige Karrierefrau, ist nicht mehr in der Lage, ihren Beruf als Controllerin auszuüben. „Ich konnte keine Geldströme kontrollieren, da ich nicht einmal das Leben meiner Kinder kontrollieren konnte.“

Nach dem Tod der Babys wenden sich die Eltern an das Jugendamt. Die beiden möchten ein Kind adoptieren. Sandra schreibt mehrere Seiten und stellt ihre Familie, auch Romy und Lenny, vor. Sie möchte nicht, dass ein Adoptivkind als Ersatz für die verstorbenen Kinder angesehen wird. „Wir haben unsere Gefühle und unsere Liebe gezeigt, aber auch unsere Freude und das Wissen, dass wir gute Eltern sein werden.“ Das Jugendamt ist von der Bewerbung beeindruckt und bietet einen Termin zum Kennenlernen an. Etwas Unerwartetes geschieht. Im Mai 2011 wird Sandra erneut schwanger. Sie ist schockiert. Sie fürchtet, das Kind zu verlieren, hat aber auch Bedenken, dass die Schwangerschaft die geplante Adoption gefährden könnte. „Die Adoption war so viel näher als die Schwangerschaft“, sagt sie.

Sie erleidet im frühen Stadium eine Fehlgeburt. Das Jugendamt meldet sich nach kurzer Zeit. Ein Baby ist zur Adoption freigegeben. Als Sandra das kleine Mädchen zum ersten Mal sieht, ist es eine unbeschreibliche Liebe. „Ich wusste sofort, das ist unser Kind.“ Melina kommt als absolutes Wunschkind zu dem jungen Ehepaar.

Eineinhalb Jahre nach Melinas Geburt plant die Familie ein zweites Kind. Melina soll nicht als Einzelkind aufwachsen. Wagners möchten es noch einmal mit einer künstlichen Befruchtung und einer eingefrorenen Eizelle (Drilling von Lenny und Romy) versuchen. Aber sie erfahren, dass die Eizelle das Einfrieren nicht überlebt hat. „Von da an wollte ich nie mehr schwanger werden“, sagt sie. Das Ehepaar beschließt, ein weiteres Kind zu adoptieren. Es kommt anders als erwartet. Ein Baby, das ein Jugendamt vermitteln möchte, kann aber nur durch eine Zwangsadoption abgegeben werden. „Eine Zwangsadoption wollten wir nicht. Es war einfach zu viel ungeklärt.“ Deshalb lehnen Wagners die Adoption ab.

Das Gärtchen

Unerwartet wird Sandra erneut schwanger, dieses Mal hat sie ein gutes Gefühl von Beginn an. „Die Monate waren zwar von Angst geprägt, aber gleichzeitig war da ein großes Vertrauen, dass es gut geht“, sagt Sandra Wagner. Sie liegt richtig. Melinas Schwester Jona kommt mit einem Gewicht von etwa 4 Kilogramm und einer Größe von 55 Zentimetern in der 40. Schwangerschaftswoche gesund zur Welt. Sandra und Marco Wagner sind glücklich. „Wir haben vier Kinder, zwei im Himmel und zwei auf der Erde“, sagt Sandra und fügt hinzu:

„Ich zeige euch noch das Gärtchen.“ Das befindet sich auf dem Friedhof in Seßlach, dort haben Romy und Lenny ihre letzte Ruhestätte. Ein Regenbogen ist auf dem Grabstein zu sehen. Eine Inschrift lautet:

„Viele kleine Welten, in der einen lebt ihr, in einer anderen wir. Und doch gehören unsere Welten zusammen.“

Immer in der Mittagsstunde besucht Papa Marco, der in Seßlach arbeitet, das Grab seiner Zwillinge. Neben Romy und Lenny liegt ein weiteres Sternenkind begraben. Das Leid ist groß. In Coburg werden zwei Sammelbestattungen pro Jahr vom Klinikum ausgerichtet, bei denen jeweils rund 100 Kinder mit einem Geburtsgewicht bis 500 Gramm verabschiedet und im Anschluss würdevoll bestattet werden. In Deutschland endet jede dritte Schwangerschaft in einer Fehlgeburt. Sternenkinder sind all die Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben.

Wenn aus Trauer Liebe wird

Sandra Wagner hat ihre Erlebnisse in ihrem Buch „Wenn aus Trauer Liebe wird“ verarbeitet. Die Autorin beschreibt ihren lebensbejahenden Weg durch die Trauer und zeigt, dass der Tod nicht zwangsläufig das Ende bedeuten muss, sondern auch Beginn von etwas Neuem sein kann. Sandra Wagners Buch ist ein autobiografischer Roman, der Hoffnung spendet. Darin zeigt sie, wie aus Seelenschmerz Herzstärke und aus Liebe Trauer entstehen können.

Lenny und Romy haben das Leben ihrer Eltern umgekrempelt. Sandra Wagner hat sechs Monate nach der Geburt ihrer Zwillinge eine Selbsthilfegruppe für Eltern von Sternenkindern in Coburg gegründet. Die Selbsthilfegruppe feierte im Jahr 2021 zehnjähriges Bestehen. Seit 2020 ist Sandra Wagner zertifizierte Kinder-, Jugend- und Familientrauerbegleiterin und beruflich für das Sternenkinderzentrum Bayern Außenstelle Coburg verantwortlich. Im Sternenkinderzentrum Bayern bekommen alle Frauen Hilfe, egal, wie lange ihre Schwangerschaft zurückliegt und wie weit sie fortgeschritten war. Denn ein Kind zu verlieren, kann nicht einfach abgearbeitet, abgehakt oder übergangen werden. „Egal zu welchem Zeitpunkt ein Baby geht, ob in der fünften Woche oder zum errechneten Geburtstermin, wir stehen zur Seite“, sagt Sandra Wagner.

Seit „der neuen Zeitrechnung“ sieht Sandra Wagner das Leben mit anderen Augen und in allem auch etwas Positives. Sie ist überzeugt, dass jedes Sternenkind ein Geschenk mitbringt. Romy und Lenny haben sich nach 22 Wochen und drei Tagen auf die Reise begeben. Sie haben nur kurz in dieser Welt vorbeigeschaut und doch so große Spuren hinterlassen.

www.sandra-wagner-autorin.de


Kontakt:

Sternenkinder Coburg „Eltern tot geborener Kinder“
Sandra Wagner
Telefon: 015112 6217284
E-Mail: sternenkinder-coburg@gmx.de

Sternenkinderzentrum Bayern e. V.
Sodenstraße 14, 96047 Bamberg
Telefon: 0951 50906 101
E-Mail: info@sternenkinderzentrum-bayern.de

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