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Weil der Mensch weit mehr ist, als sein Alter … #34

Sonderthema Liebe – Weil der Mensch weit mehr ist, als sein Alter …

Liebe und Sex – das ist doch nur was für junge Leute oder? Natürlich nicht! Erotik und Lust enden in keinem Alter. Im Gegenteil: „Wir sind bis zum letzten Atemzug sexuelle Wesen“, sagt Professor Michael Vogt. Vogt, Studiendekan an der Hochschule Coburg, forscht seit 30 Jahren in diesem Themenbereich und bezieht Erfahrungen aus seinem Berufsfeld als Paartherapeut mit ein.

COBURGER: Professor Vogt, Sie haben vor 30 Jahren, als junger Mann, mit Ihren Forschungen zum Thema Liebe und Sexualität im Alter begonnen. Was war der Auslöser?

Vogt: Es gab zwei Initialzündungen: Zum einem war das meine eigene Familiengeschichte. Ich habe die Persönlichkeitsveränderung meines Vaters infolge einer Alzheimererkrankung erlebt. In dieser Zeit prägte meine Mutter als unmittelbar Betroffene das Bild einer „lebendigen Witwe“. Das war der Auslöser, im Themengebiet Demenz, Partnerschaft und Sexualität zu forschen. Zeitgleich habe ich in meiner damaligen Funktion als Paartherapeut und Leiter von 17 Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen im Ruhrgebiet in den 1990er-Jahren festgestellt, dass sich nur wenige Menschen über 50 Jahren mit ihren persönlichen Anliegen an Beratungsstellen wandten. Gab es dennoch Begegnungen, konnte ich feststellen, dass es bei ihnen zu dem Thema einen enormen Redebedarf gab, sie aber auf nur wenig Informationen zurückgreifen konnten.

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COBURGER: Um welche Altersgruppe handelt es sich, wenn wir von Liebe und Sex im Alter reden?

Vogt: Alle Menschen über 60 Jahre, auch wenn wir drei Gruppen hinsichtlich ihrer Lebenssituation und ihren Bedürfnissen unterscheiden müssen. Einmal sind es die 60 bis 70-Jährigen, die Gruppe der 70-bis 85-Jährigen und die Hochbetagten. Grundsätzlich ist der Mensch bis zum letzten Atemzug ein sexuelles Wesen mit sexuellen Bedürfnissen.

COBURGER: Heißt das, Lust und Verlangen bleiben mit dem Älterwerden bestehen?

Vogt: Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis, das über die Jahre nicht wegaltert, da das Gehirn als ein primäres Lustorgan seine Funktionsfähigkeit nicht einstellt. War der Mensch schon immer sexuell aktiv, ist es wahrscheinlich, dass er das auch im Alter ist.

COBURGER: Wie wichtig ist Sexualität für eine gelingende Partnerschaft ?

Vogt: Die Partnerschaftszufriedenheit ruht auf den Säulen Intimität, Übereinstimmung, Unabhängigkeit und Sexualität. Gerade im Alter unterscheidet die Sexualität, noch konkreter eine Kultur des Erotischen, zu der Liebkosung und naher Körperkontakt zählt, eine Liebesbeziehung von einer eher geschwisterlichen Beziehung oder einer reinen Versorgungsgemeinschaft . Begehren und begehrt werden ermöglicht einen positiven Zugang zum eigenen Körper und Näheerfahrungen in der Partnerschaft . Sexualität ist somit etwas Exklusives, das man in der Regel nur mit dem Partner teilt.

COBURGER: Wie können die Partner dazu beitragen, dass die Liebe und Erotik in langen Partnerschaften nicht einschlafen oder langweilig werden?

Vogt: Der Schlüssel zu einer gelingenden Paarbeziehung sind die Kommunikation und die Bereitschaft , sich in die Partnerschaft einzubringen. Gerade im Langzeitverlauf verändern sich auch sexuelle Bedürfnisse und Reiz-Reaktionsmuster. Eine berechenbare Routine ist der Feind jeglicher positiven Spannung.

Vielmehr geht es darum, sich auch mit altersbedingten Veränderungen selbst und gegenseitig anzunehmen. In einer Paarbeziehung benötigen wir Zeichen der Wertschätzung, da sie das Interesse am anderen widerspiegeln. Haben Menschen das Gefühl, sie seien austauschbar, stellen sie naturgemäß ihre Bereitschaft ein, sich auf den anderen einzulassen. Von daher sind Einfühlungsvermögen, manchmal aber auch Mut gefragt, z. B. wenn ich den Partner frage, wie es ihm mit mir geht. Gerade wenn die äußere Ordnung, z. B. durch die Aufgabe einer Berufstätigkeit, wegfällt, ist es wichtig, trotzdem auf Körperpflege oder Kleidung zu achten – und Gedanken und Gefühle miteinander zu teilen. Eine zugebenermaßen keine selbstverständliche Aufgabe.

Auf meiner Homepage www.partnerschaft-alter.de stehen einige von mir in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld entwickelten Anregungen zum kostenfreien Herunterladen bereit, um die innere Welt (wieder) zum Klingen zu bringen. Bedeutsam erscheint zudem, dass selbst in scheinbar verfahrenen Beziehungen voller Missverständnisse diese Ebene wieder neu initiiert werden kann, wenn beide Partner bereit sind, neue Wege zu suchen. Hier erlebe ich immer wieder, dass Männer und Frauen der Sexualität eine vollkommen andere Bedeutung zumessen. So versuchen Männer ganz häufig, ihre Nähe zur Partnerin mit Sex auszudrücken, Frauen benötigen hingegen jedoch oft eher Nähe als Grundstimulanz, um sich auf Sexualität einzulassen. Beide suchen jedoch das Gleiche: Exklusivität in der Wahrnehmung durch den Partner. Wenn dieses Missverständnis geklärt werden kann, bekommt die Aussage von George Bernard Shaw eine zukunftsweisende Bedeutung: “Wenn ich achtzig Jahre zählen werde, so wird ein weißes Haar vom Haupte der geliebten Frau mich mehr erzittern machen als der dichteste Zopf des allerschönsten jungen Hauptes“.

COBURGER: In welchen Lebensphasen scheitern Beziehungen eigentlich am häufigsten?

Vogt: Wir haben es statistisch mit drei großen Scheidungsgipfeln zu tun. Einmal so nach ca. vier Jahren Ehe beziehungsweise nach sieben Jahren Partnerschaft, nach der Silberhochzeit und zunehmend um die Goldhochzeit. Man kann sich vorstellen, dass bei einer Scheidung nach 50 Jahren Ehe eine Entwicklung voraus ging, die von Misserfolgen, Kränkungen und wenig wertschätzendem Umgang miteinander geprägt war. Für viele, insbesondere Frauen, stellt die Entscheidung, sich nach einer so langen Zeit zu trennen, die letzte Möglichkeit dar, ihrem Leben nochmals eine andere Richtung zu geben.

Mit dem Eintritt in den Ruhestand tritt oft ein spezielles Phänomen auf. Nachdem die lange liegengebliebenen Aufgaben und Vorhaben in den ersten Monaten erledigt sind, machen Partner die Erfahrung, dass sie plötzlich 24 Stunden am Tag zusammen sind, die natürlich gefüllt werden wollen. Mit dieser Ebene haben Paare in der Regel keine Erfahrungen und müssen lernen, gemeinsame und persönliche Bedürfnisse miteinander auszubalancieren. Sonst kann es vorkommen, dass sich z. B. der gerade verrentete Ehemann zuhause nicht willkommen fühlt beziehungsweise – um in diesem Bild zu bleiben – er als „Eindringling“ in einer zuvor geordneten Welt wahrgenommen wird, der die notwendigen Abläufe des Haushalts in Frage stellt. Es ist schon anspruchsvoll, einen Weg zu finden, sich als Partner neu aufeinander einzustellen.

COBURGER: Man hört aber auch, dass ab dem 60. Lebensjahr Paare sexuell am aktivsten sind?

Vogt: Wenn die Kinder aus dem Haus sind und Zeit da ist, gibt es für viele Paare einen Wiedereinstieg in die Sexualität, wenn auch auf eine andere Art als in jungen Jahren. Da Verhütung kein Thema mehr ist, gibt es eine neue Freiheit und eine Unbeschwertheit, die der Beziehung eine neue Qualität geben können. Es kommt dabei nicht auf die Häufigkeit des sexuellen Kontaktes an, sondern auf die Qualität. Dabei geht es natürlich nicht nur um den Geschlechtsakt, sondern um paarspezifische Formen des Ausdrucks von Begehren und Liebkosung. Sexualität umfasst also weit mehr als Geschlechtsverkehr. Und die Qualität der Beziehung sagt auch etwas darüber aus, ob man bereit ist, später die Pflege des Partners zu übernehmen.

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Foto: Val Thoermer

COBURGER: Schmetterlinge im Bauch, Herzklopfen – kommt das auch in den fortgeschrittenen Lebensjahren vor?

Vogt: Liebe ist kein Thema von Twens und Teens. Der Mensch ist weit mehr als sein Alter ausmacht und man kann auch im Alter noch den Zauber der Verliebtheit erleben. Gerade auch nach Trennung und Verwitwung und den Online-Kursen für Senioren sei Dank, verlieben sich natürlich auch Menschen im höheren Lebensalter. In meiner Forschung habe ich allerdings feststellen müssen, dass Verliebtheit von älteren Elternteilen allerdings von den erwachsenen Kindern nur begrenzt toleriert wird, wobei man es Männern eher zugesteht als Frauen. Wir erleben hier leider eine Form des Ageismus.

Anmerkung: Ageismus beschreibt Altersfeindlichkeit als Form sozialer und ökonomischer Diskriminierung. Die negative Wahrnehmung des Alters und die damit zusammenhängende Stigmatisierung des Alterungsprozesses, des Altseins und der davon betroffenen Gruppe von Menschen führen zu gesellschaftlichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraxen // Quelle: Gender Institut Bremen

COBURGER: Stellen Sie bei dem Thema Liebe und Sex im Alter Veränderungen fest in den vergangenen Jahren?

Vogt: Es gibt eine zunehmende Befreiung von alten Menschen, die die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal übernehmen und aktiv ihr Leben gestalten wollen, anstatt dies passiv zu erdulden. Übrigens: Das älteste Paar, das in meine Beratung kam, war 91 Jahre und 87 Jahre alt. Dies führt zugleich zur Notwendigkeit, sich mit den Bedarfslagen im höheren Lebensalter noch intensiver als zuvor auseinanderzusetzen, damit wir helfen können, die Lebensqualität in einer immer älter werdenden Gesellschaft zu sichern. Derzeit forsche ich an dem Themenfeld „Umgang im Spannungsfeld Sexualität und Demenz“, was schon offenbart, dass wir noch viele neue Wege suchen müssen, mit den sich verändernden individuellen, partnerschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen umzugehen und ältere Menschen ernst zu nehmen.


Die Fragen stellte Gabi Arnold.


Professor Michael Vogt hat zahlreiche Publikationen zu dem Themenbereich Partnerschaft im Alter veröffentlicht. Weitere Informationen auf www.partnerschaft -alter.de

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