Auf ein Wort Schriftzug

Auf ein Wort #60

Nachruf auf Zweitausenddreiundzwanzig

von Wolfram Hegen

Wir sind hier zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von einem Jahr, das wie schon die letzten geprägt war von globalen Herausforderungen, von Kriegen und Krisen, von Bedrohungen und Ängsten. Ein Jahr, das unsere weltweite Ordnung, unsere Gesellschaften, unseren Gemeinsinn, und nicht zuletzt jeden Einzelnen von uns ganz persönlich auf die Probe gestellt hat.

An die zwei Jahre schon tobt in der Ukraine ein Krieg. Die Front ist weit weg und doch so nah, der Krieg ist in unserer Gesellschaft angekommen: Wir stehen an der Seite der Ukraine, die ihr Land, ihre Heimat und Kultur gegen einen Angreifer verteidigt, wir liefern Waffen, hunderttausende Flüchtlinge suchen bei uns nach Schutz, wir leiden mit ihnen und mit den vielen Opfern auf beiden Seiten.

Im Herbst des Jahres löste ein bestialischer Überfall auf Israel einen neuen Krieg im Nahen Osten aus. Auch diese Front ist weit weg und doch so nah: Wir stehen an der Seite Israels, wir leiden mit den Opfern und ihren Familien, weil unsere Geschichte Verpflichtung ist und weil auch Israel sich gegen einen Angriff verteidigt. Wir können es nicht fassen, dass Antisemitismus auf unseren Straßen wieder ausgelebt wird, und wir leiden genauso mit den Menschen in Gaza, die diesen Krieg mit ihrem Leben bezahlen.

Wie in einer fernen Vergangenheit wirkt vor diesem Hintergrund die in diesem Jahr zu Ende gegangene Corona-Pandemie, die zwar ihren Schrecken verloren und doch die letzten Jahre Hunderttausende das Leben gekostet hat, und deren Folgen bis heute viele Menschen schwächt, körperlich wie psychisch. Energiekrise und Inflation ließen und lassen uns sparen, in kalten Zimmern sitzen, damit das Gas reicht für den Winter und die Rechnungen noch bezahlt werden können. Und der Klimawandel bedrohte in diesem Jahr mit neuen Temperaturrekorden, Bränden und Sturzfluten immer spürbarer Leib und Leben.

Dieses Jahr hat uns gelehrt, dass jahrzehntelange Gewissheiten der Vergangenheit angehören, dass es keine einfachen Lösungen gibt für die großen, oft miteinander verflochtenen Herausforderungen, und dass wir uns vor Verantwortung nicht mehr wegducken können – wir als Gesellschaft nicht, aber auch jeder Einzelne.

Dieses Jahr hat aber auch Mut gemacht, dass wir Lösungen finden können. Die Zahl der Menschen in Politik und Gesellschaft, die bei allen Gegensätzen in solchen Zeiten konstruktiv miteinander reden, nach Kompromissen suchen, um Kriegen, dem Klimawandel, der Ungerechtigkeit Herr zu werden, ist groß. Und fast alle Menschen wünschen sich für sich und ihre Familien ohnehin ganz einfach nur ein würdiges Leben in Sicherheit und Frieden.

Sie alle müssen nur lauter werden und dürfen den Kriegstreibern, Extremisten, Terroristen und Rattenfängern nicht das Feld überlassen.

So nehmen wir Abschied von diesem Jahr, in der Hoffnung, aus ihm zu lernen.

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