Brexitus – Nick Barton und der Tod einer Hoffnung
Am 31. Januar hat er auf Facebook seinen ganz persönlichen Abgesang auf seine Heimat veröffentlicht, „extremely depressed“, mit einer Gitarre im Arm, ein Glas Wein vor sich stehend, aus dem er kurz nippt, als ob er das, was er gleich spielt vor laufender Kamera, nicht ertragen könnte: Nick Barton, Liverpooler, Engländer und Europäer aus tiefstem Herzen, seit vielen Jahren in Coburg lebend, weit weg von der Heimat, die sich nicht mehr wie seine anfühlt, spielt „The Winner takes it all“ von ABBA, resigniert, weil Johnson und Komplizen, „the bastards“, sich das Land, in dem er geboren ist, „genommen haben“ mit ihrem Brexit.
von Wolfram Hegen
Fotos: Val Thoermer
Wenige Wochen vorher treffen wir Nick Barton, im Oktober 2019. Wir wollen eine Geschichte machen über einen Engländer, der in Coburg lebt, über seine Beobachtungen, seine Gefühle. Wir wollen die Geschichte veröffentlichen noch vor einem möglichen Brexit Ende Oktober. Doch in London tobt der Kampf um den Austritt, wir verschieben den Veröffentlichungstermin auf Dezember. Als wir in Druck gehen, ist immer noch nicht klar, was passieren wird. Also verschieben wir die Geschichte auf Februar.
Jetzt wissen wir es: Britannien ist raus.
Aber als wir uns treffen, hofft Barton noch auf einen Verbleib des Königreichs in Europa, träumt nachts oft davon, dass der Brexit gestoppt wird, wie er uns erzählt. Er glaubt daran, dass der Brexit nicht passiert, dass die Queen sich einmischt, „sie hätte die Möglichkeit gehabt, ihn zu stoppen, hat sich aber bisher nie geäußert.“ Er denkt noch, dass die Opposition sich mobilisiert, dass sie an die Macht kommt, es vielleicht ein neues Referendum gibt. „Die beste Alternative wäre, in der EU zu bleiben, sich zu entschuldigen“, sagt er. Er denkt, hofft , glaubt immer noch an ein gutes Ende, weil er sich den schlimmsten Fall nicht vorstellen will, dass der Brexit kommt, dass die Geschäfte einbrechen, dass jahrelange Verhandlungen anstehen, dass vielleicht 20 bis 30 Jahre verloren sind.
„Ich habe Angst“, sagt er, dessen Familie in England liberal-demokratisch denkt, lebt und arbeitet. Geschäftsleute, die vom Handel zwischen Ländern leben. „Alle sind entsetzt, über das, was da passiert.“ Die Familie schämt sich für ihr Land. Sie alle fühlen und leben wie Europäer, lieben die offenen Grenzen, ein gemeinsames Europa, reisen gerne. Barton selbst hat Angst um seine eigene Zukunft . „Für mich könnte das theoretisch ja die Abschiebung bedeuten, weil ich als nicht EU-Bürger in Deutschland so etwas wie ein Migrant wäre, obwohl ich hier verheiratet war und ein Kind habe.“ Er fühlt sich nicht mehr sicher, keiner garantiert ihm Rechte, es gibt keine Garantien, nur Mutmaßungen, er fühlt sich „wie eine Verhandlungsmasse“, sagt er bitter.
Und er ist voller Wut gegen Boris Johnson, diesen „Opportunisten“, der „wie gedruckt lügt“, der „nur hetzt“, „nur sein Ego kennt“, „ein Typ wie Trump“. Solche Leute, sagt Barton im Oktober, „kann man doch nicht wählen, die sind unanständig.“ Die Kriminalität gegen Ausländer sei wieder stark angestiegen, beobachtet er, „dank Boris Johnson“, der sich die „latente Ausländerfeindlichkeit, die latente EU-Feindlichkeit“ in Teilen der Bevölkerung zunutze gemacht habe. „Die Konservativen haben die EU instrumentalisiert, haben ihr die Schuld in die Schuhe geschoben für die Probleme im Land.“ Gleichzeitig habe man sich ausgeruht auf alten Weltmachtgefühlen, die man immer wieder geschürt habe, „den Nationalismus lernt man schon in der Schule.“ Und er hat Wut auf James Cameron, der die Nationalisten mit dem Referendum befrieden wollte und ihnen so erst den Weg bereitet hat. „Man muss sich schämen, dass der noch frei herumläuft “.
Er habe immer gegen den Brexit gekämpft , sagt er, hat sich immer eingesetzt für Europa, immer seine Meinung gesagt. „Ich war früher in Blackpool, da haben sie mit EU-Gelder ein riesiges Hochwasserschutzprojekt umgesetzt, trotzdem haben die für den Brexit gestimmt“, erzählt er, „in Liverpool haben sie mit viel EU-Mitteln große Teile der Stadt saniert, haben sie zur Kulturhauptstadt 2008 gemacht“. Nick Barton liebt seine Heimat, aber er versteht viele Engländer nicht mehr. „Ich bin trotzdem froh, dass ich Engländer bin, aber ich bin eben auch froh, dass ich in Deutschland wohnen darf … “, fasst er seine Gefühlswelt zusammen und fügt am Ende noch an: „ …noch“.
Kurzportrait Nick Barton
Geboren in Liverpool, seine Eltern ziehen mit dem Zweijährigen nach Nordrhein- Westfalen, elf Jahre leben sie dort. Mit 13 kommt er zurück nach England, nach Blackpool, Deutschland aber fehlt ihm. Er will Sprachen studieren, „Hauptsache Deutsch“, das tut er auch, studiert in Liverpool Germanistik, ein Auslandsaufhalt in Deutschland ist vorgeschrieben. Er bewirbt sich in Bayern und kommt so das erste Mal 1986 nach Coburg. „Um Gottes willen, wo schicken die mich hin“, ist sein erster Gedanke, aber er verliebt sich sofort in Coburg, in die „bildhübsche Kleinstadt“, „alle waren supernett“, er feiert viel mit seinen Coburger Freunden und Kollegen, und er unterrichtet am Alexandrinum und am Casimirianum als Fremdsprachenassistent Schüler.
1988 nach dem Studium ist er wieder in England, träumt jetzt von einer Karriere als Musiker, gibt die Bemühungen aber 1991 auf. Er zieht wieder nach Coburg, macht sich später mit Sprachkursen selbständig und gibt heute neben seinem Beruf bei einem Unternehmen in der Region Unterricht für Geschäfts- und Privatleute und organisiert und begleitet Sprach- und Kulturreisen auf die Insel. Liverpool liebt er noch immer, vor allem die Reds, den FC Liverpool, und wenn irgendwie möglich, nutzt er eine der Dauerkarten, die seine Familie besitzt und so schnell auch nicht mehr hergibt. In Coburg sieht man ihn oft , wenn er ein bisschen seinen alten Traum lebt: In der Fußgängerzone mit seiner Gitarre.