coburger-41-die-erfindung-eines-begriffs-titelbild

Die Erfindung eines Begriffs #41

Rassismus macht Rassen

Die sogenannte „Jenaer Erklärung“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena erklärte 2019 den Begriff der Rasse für obsolet: Für die Einteilung des Menschen in Rassen gibt es keine biologische Grundlage. Damit sorgten die Jenaer für weltweites Aufsehen und Reaktionen. Der COBURGER hat sich dazu mit Prof. Dr. Uwe Hoßfeld unterhalten, der an der Jenaer Erklärung beteiligt war. Hoßfeld kommt aus Sonneberg und forscht und lehrt seit vielen Jahren am Institut für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort beschäftigte er sich auch viel mit dem Jenaer Professor Ernst Haeckel. Haeckel war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner Klassifizierung von Menschenarten einer der Wegbereiter des Rassismus.

COBURGER: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ heißt es in der Jenaer Erklärung des Instituts für Zoologie und Evolutionsforschung, an der Sie 2019 beteiligt waren. Es gibt also biologisch keinen Hinweis auf so etwas wie menschliche Rassen?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Wir gehen heute davon aus, dass es keine biologische Grundlage für einen Rassebegriff mehr gibt. Der Rassebegriff ist nichts anderes als ein gedankliches Konstrukt und entbehrt jeder Realität, weshalb wir den Rassebegriff grundsätzlich ablehnen und uns – als Autoren der „Jenaer Erklärung“ – dafür einsetzen, diesen Begriff nicht mehr im Zusammenhang mit Wissenschaft zu benutzen. Die Genforschung hat mit Analysen an altem Skelettmaterial gezeigt, dass zwischen menschlichen „Gruppen“ im Laufe der Zeit ein immerwährender Genaustausch stattgefunden hat. Im menschlichen Erbgut gibt es 3,2 Milliarden Basenpaare – aber bei keinem einzigen Basenpaar gibt es einen einzigen fixierten Unterschied, der zum Beispiel Afrikaner von Nicht-Afrikanern trennt. Es gibt also nicht nur kein einziges Gen, das solche „rassischen“ Unterschiede begründet, sondern noch nicht einmal ein einziges Basenpaar. Damit ist jede Kategorisierung hinfällig. Gruppen, Völker oder Rassen sind beim Menschen nicht existent.

COBURGER: Es gibt also zwar viele äußerliche Unterschiede zwischen den Menschen, aber keine unterschiedlichen Gene?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Läuft man durch eine Stadt, bemerkt man unweigerlich, wie vielfältig das Erscheinungsbild der Menschen ist: dick oder dünn, groß oder klein, tätowiert und gepierct oder nicht, behaart oder unbehaart. Einige haben auch eine blasse weiße Hautfarbe, andere hingegen sind dunkel oder hellbraun. Auch die Haarfarbe, der Haartyp, die Lippen, Nase, Ohren und Augen oder die Gesichts- und Schädelform variieren. Zum Teil haben wir uns an diese Unterschiede gewöhnt und benutzen sie, um bekannte, verwandte Menschen wieder zu erkennen. Unterschiedlichkeit ist keine Illusion – die Menschen stellen körperlich eine der variantenreichsten Spezies auf der Erde dar. Dabei ist es scheinbar leicht, zwischen Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde Unterschiede am äußeren Erscheinungsbild zu erkennen. Die zugrundeliegenden genetischen Variationen selbst sind aber viel weniger ausgeprägt. Die Wahrnehmung von äußeren Unterschieden kann uns also irrtümlicherweise dazu verleiten, von diesen auf die Herkunft und damit einhergehenden genetischen Unterschieden zu schließen.

COBURGER: Wie erklären sich unterschiedliche Hautfarben in unterschiedlichen Regionen der Welt?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Dass man Menschen nach Hautfarbe klassifiziert, macht wenig Sinn, denn stark pigmentierte Menschen gibt es nicht nur in Afrika, sondern auch in Asien, Australien und Amerika. Nur in Europa gibt es diese scheinbar nicht. Allerdings haben genetische Analysen gezeigt, dass dies vor wenigen Jahrtausenden noch ganz anders war. Die europäischen Ureinwohner, die bis vor 5000 Jahren noch in Mitteleuropa als Jäger und Sammler lebten, besaßen noch nicht die Gene, die heutigen Europäern ihre Hellhäutigkeit verleihen. Diese kamen vor 7000 Jahren erstmals mit den frühen Ackerbauern aus Anatolien nach Europa. Zuvor waren Europäer stärker pigmentiert. Sie haben ihre Pigmentierung erst in den letzten 5000 Jahren wahrscheinlich als direkte Folge der Sesshafthaftigkeit und Ausbreitung des Ackerbaus verloren. Wurde der Vitamin-D-Bedarf bei Jägern und Sammlern hauptsächlich über Fisch und Fleisch gedeckt, so entstand in der Ernährung der frühen Ackerbauern ein Mangel, der durch zunehmendes „Ausbleichen“ kompensiert werden musste. Vitamin D kann der Körper durch UV-Strahlen des Sonnenlichtes bilden. Umso schwächer die Pigmentierung, umso mehr UV-Licht dringt durch die Haut. Die frühen Ackerbauern aus Anatolien mussten also ihre Pigmentierung allmählich verlieren, um sich im dunklen Winter Mittel- und Nordeuropas dauerhaft auszubreiten. Folglich sind die Menschen Skandinaviens am wenigsten pigmentiert. Der Norden Europas ist mit Abstand der nördlichste Punkt auf der Welt, an dem Ackerbau betrieben werden kann. Durch den Golfstrom gibt es dort wesentlich mildere Winter als auf dem gleichen Breitengrad in Sibirien, Alaska oder Kanada, wo in diesen Breiten Permafrost herrscht und die Ureinwohner dieser Regionen meist auch stärker pigmentiert sind, beispielsweise die Inuit, die ihren Vitamin-D-Bedarf durch ihre Nahrung wie Fisch und Fleisch decken.

COBURGER: Wie entstand der Begriff der Rasse?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Die genaue Herkunft des Wortes „Rasse“ ist bis heute unklar. Im 17. Jahrhundert war es der Franzose François Bernier, der die Bezeichnung erstmals zur Klassifikation von Menschen verwendete. Der Ursprung der eigentlichen anthropologischen Rassenkunde liegt dann im 18. Jahrhundert, als mit Carl von Linné die Klassifikation der natürlichen Ordnung ihren Anfang nahm. Es folgten die vier Rassen von Immanuel Kant, dann legte Johann F. Blumenbach seine Rassengliederung vor, die u.a. auf Hauttönungen beruhte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es dann ein Zoologe aus Jena, Ernst Haeckel, der in seinen Stammbäumen und Übersichten zwölf Menschenarten, nicht Menschenrassen klassifizierte.

COBURGER: Wie waren die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft zu Ihrer Jenaer Erklärung? Gab es Anfeindungen, auch persönlicher Art?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Die Rezeption der „Jenaer Erklärung“ löste ein großes sowohl nationales als auch internationales Echo in Funk und Fernsehen, den Printmedien und sozialen Netzwerken aus: Bis zum Oktober 2019 waren schon über 75 Meldungen in sämtlichen großen Medien zu finden, bei Facebook kamen wir schnell auf über 3000 Zugriffe, bei Twitter schnell auf über 10 000. Der nächste Hype war dann im Frühjahr 2020 zu verzeichnen, als die Grünen eine Abschaffung des Begriffes aus dem Grundgesetz forderten und Bundesinstitute sowie wissenschaftliche Gesellschaften den Inhalten der Erklärung folgten. Parallel dazu gab es an Anfeindungen und Beleidigungen – wie eigentlich zu erwarten war – das ganze Spektrum. „Ist Hoßfeld ein Jude?“ oder „Geh zurück nach Afrika zu den Negern, wenn Du von dort kommst …“ waren bei mir noch das Harmloseste. Es ist „ideologisch“ eben schwer zu akzeptieren, dass unsere Vorfahren bis vor kurzem (6-8000 Jahre) alle einmal dunkelhäutig gewesen und zum Beispiel aus Afrika oder Anatolien eingewandert sind.

COBURGER: Jetzt sichert das Grundgesetz jedem unabhängig unter anderen von seiner Rasse die unantastbare Würde zu. Muss das Grundgesetz überarbeitet werden?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Aus meiner Sicht ja. Es sollte im Grundgesetz des 21. Jahrhunderts nicht eine Begrifflichkeit stehen, die es real nicht gibt. Mir ist aber auch bewusst, dass eine bloße Streichung des Wortes „Rasse“ aus dem Gesetzestext Rassismus, Intoleranz oder Angst vor dem Fremden nicht verhindert. Es ist aber ein erster Schritt und schafft hoffentlich ein Bewusstsein, dass solche problembehafteten Wörter nicht mehr benutzt werden sollten. Dabei geht es aber eben nicht nur um die sprachpolitische Korrektheit, einen Begriff durch einen anderen zu ersetzen, es geht um eine generelle Korrektur im Denken aufgrund neuer wissenschaftlicher Befunde: Die Anwendung des Begriffes „Rasse“ auf den Menschen ist nicht korrekt. Man spricht heute in der Regel von Menschengruppen und Populationen, nutzt also diese wertfreien Wörter.

COBURGER: Sie haben es angesprochen: selbst wenn der Begriff der Rasse obsolet ist, ist das ja nicht das Ende des Rassismus. Liegt nicht schon in der Abgrenzung vom Anderen, vom Fremden, nach einem „Wir“ und „Die“ immer die Gefahr der Überhöhung, Ausgrenzung, Verfolgung Anderer?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Der Haupttenor der Jenaer Erklärung ist, Rassismus macht Rassen, nicht Rassen führen zu Rassismus. Die Idee der Existenz von Menschenrassen war und ist von Anfang an mit einer Bewertung dieser vermeintlichen Rassen verknüpft, ja die Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit von Menschengruppen ging der vermeintlich wissenschaftlichen Beschäftigung voraus. Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Haarstruktur, Augen- oder Schädelform – hat zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. Ein Kennzeichen heutiger Formen des Rassismus ist die Vermeidung des Begriffes „Rasse“ gerade in rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Milieus. Rassistisches Denken wird mit Begriffen wie Selektion, Reinhaltung oder Ethnopluralismus aufrechterhalten. Bei dem Begriff des Ethnopluralismus handelt es sich aber um nichts weiter als um eine Neuformulierung der Ideen der Apartheid. Auch die Kennzeichnung „des Afrikaners“ als vermeintliche Bedrohung Europas und die Zuordnung bestimmter (biologischer) Eigenschaften stehen in direkter Tradition des abscheulichsten Rassismus vergangener Zeiten. Sorgen wir also dafür, dass nie wieder mit scheinbar biologischen Begründungen Menschen diskriminiert werden und erinnern wir uns und andere daran, dass es der Rassismus ist, der Rassen geschaffen und sich die Zoologie und Anthropologie ja auch unrühmlich an vermeintlich biologischen Begründungen beteiligt hat. Der Nichtgebrauch des Begriffes Rasse sollte heute und zukünftig zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehören.

COBURGER: Sind die je nach Gesellschaft heutigen sozialen Schichten, Klassengesellschaften, Kasten oder ähnliche „Ordnungen“ nicht auch Rassismus, nur mit anderen Bezeichnungen?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Es zeigt sich bis heute in den aktuellen Diskussionen, dass anscheinend ein merkwürdiges Bedürfnis vorhanden ist, das Konzept der Menschenrassen zu retten, da äußere Unterschiede und genetische Differenzierung doch nun „offensichtlich“ seien. Statisches, typologisches Denken scheint dem Menschen eigen zu sein. Typologie zeichnet sich aber nun gerade durch das Fehlen von Übergängen und von statischen Eigenschaften aus und widerspricht allen Befunden zur Diversität des Menschen. Oder es wird behauptet, bei Tieren spricht man doch auch immer noch von Rassen, also gelte dies auch für den Menschen. Die meisten Hunderassen aber, die wir heute kennen, gibt es erst seit 150 Jahren oder jünger. Ohne das ständige Eingreifen des Menschen durch Zucht würde es gar keine entsprechenden Hunderassen geben. Die meisten Hunderassen wurden von Menschen durch Inzuchtverpaarung gezüchtet, um bestimmte Eigenschaften zu erzeugen. Sie sind auf eine etwas „andere Art und Weise“ auch Konstrukte des menschlichen Geistes.

COBURGER: Ganz aktuell ist der Rassismus ja wieder aktueller denn je, bis hinein in staatliche Strukturen. Überrascht Sie das?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Eigentlich nicht. Die politische Großwetterlage zeigt derzeit weltweit, dass ein aufgeklärter, mündiger Bürger Ereignisse viel besser einschätzen und bewerten kann, wenn er dafür auch ausreichend wissenschaftliche Argumente an die Hand bekommt und in Sachfragen geschult ist. Hier sehe ich vor allem auch den Wissenschaftler in der Verantwortung, denn oftmals ist, wie hier am Beispiel der Verwendung des Begriffes Rasse auf den Menschen, die Anwendung nichts anderes als biologisches Nichtwissen. Oder man nutzt geradezu absichtlich falsches biologisches Wissen, um andere Menschen zum Beispiel aufgrund ihrer Hautfarbe oder von anderen Dingen zu diskriminieren. Es gibt alle möglichen Formen von Diskriminierung. Und die Biologie darf niemals mehr eine Grundlage für solche Diskriminierungen sein.

COBURGER: Halten Sie eine rassismusfreie Gesellschaft für möglich?

Prof. Dr. Uwe Hoßfeld: Diese Vorstellung wäre schön, davon sind wir aber nach wie vor sicherlich noch weit entfernt. Davon träumte auch schon der Haeckel-Schüler Oscar Hertwig in seinen letzten Werken „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“ 1918 und „Der Staat als Organismus“1922, wo er sich explizit gegen den zunehmenden Sozialdarwinismus in der Gesellschaft wandte. Später lebten Martin L. King, Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela diesen Traum.

Die Fragen stellte Wolfram Hegen

    Hinterlassen Sie ein Kommentar

    17 − sechs =