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SONDERTHEMA Zufriedenheit – 13 Führerscheine 13 Schicksale #30

80 Jahre lang liegen sie unbeachtet in einem Aktenordner in Lichtenfels: jüdische Führerscheine aus den 1930er Jahren. Bis Schüler sich mit ihnen beschäftigen und auf Spurensuche gehen. Eine traurige Geschichte, lehrreich zugleich, die auch zeigt, warum es ganz besonders zufrieden macht, wenn man etwas wirklich Sinnvolles tut.

Im Jahre 1925 bekommt der 29-jährige Leo Banemann seinen Führerschein überreicht. Der junge Kaufmann braucht ihn beruflich, denn er betreibt ein kleines Unternehmen für Metzgereibedarf. Er ahnt noch nicht, welches Schicksal ihm widerfahren wird. In der Reichspogromnacht, am 9. November 1938, nimmt das Bezirksamt Lichtenfels Leo Banemann die Fahrlizenz weg. Das Nazi-Regime hat angeordnet, allen Juden ab sofort Führerscheine und Zulassungspapiere zu entziehen.

80 Jahre später wird die Zulassungsstelle im Lichtenfelser Landratsamt auf digitale Akten umgestellt. Mitarbeiter entdecken unter einem Aktenordner ein unscheinbares braunes DIN-A4-Kuvert. Darin befinden sich 13 Führerscheine, auch der von Leo Banemann ist dabei. Mit dem Fund beginnt für 14 Schüler des Meranier-Gymnasiums ein spannendes, bewegendes, aber vor allem auch erfüllendes Jahr. Die Jugendlichen widmen ihr „P-Seminar Geschichte“ den elf Männern und zwei Frauen, die einst im Besitz der blass-grauen Dokumente waren.

Wie Studienleiter Manfred Brösamle-Lambrecht erklärt, sei das Projekt dem Lichtenfelser Landrat Christian Meißner zu verdanken. Der Landrat habe die Schule kontaktiert und somit den Anstoß gegeben. Bei Brösamle-Lambrecht, der Geschichte und Deutsch unterrichtet, stieß das sofort auf Interesse. „Ich habe gedacht, dass das für ein Projektseminar eine tolle Sache sei“, so der Lehrer. Nachdem die Schüler die Kopien der 13 Führerscheine in Händen hielten, nahmen die Forschungsarbeiten ihren Lauf. „Am Anfang konnten wir uns das noch nicht so richtig vorstellen, aber wir wussten, dass das etwas Besonders wird“, sagt Luise Birkner. In Teams gingen die Jugendlichen in akribischer Detektiv­arbeit an das Werk. Jetzt galt es zu ergründen, was aus den jüdischen Bürgern, denen einst der Führerschein entzogen wurde, geworden ist. Hatten sie überlebt? Gibt es Nachfahren?

„Wir haben ganz banal im Internet nach den Namen gegoogelt,“ erzählt Francesca Schütz. Sie hat den Lebensweg von Leo Banemann erforscht. „Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, bis die Nazis an die Macht kamen und ihm alles genommen haben.“

Bei „find a grave“, einer Online-Datenbank für Friedhöfe und Grabstätten, stieß Francesca auf das Grab von Leo Banemann. Er ist am 29. Oktober 1964 in Baltimore, im US-Bundesstaat Maryland, gestorben. Anlässlich seines seines 50. Todestages hatte seine Tochter Edith zudem eine Anzeige geschaltet. Diese wiederum führte Francesca auf die Spur seiner Verwandten. „Die erste Mail von Leo Banemanns Enkelin werden wir nicht vergessen“, erinnert sich Francesca. Leo Banemann habe mit seiner Frau Martha und Tochter Edith quasi in letzter Minute aus Deutschland fliehen können, erzählt sie. „Er reiste mit dem letzten Schiff erfolgreich nach Kuba.“ Von Kuba aus ging es demnach weiter nach Florida, bis er in Baltimore strandete. Hier habe er sich nach schweren Jahren ein neues Leben aufgebaut, weiß Francesca. Leo Banemann gehört zu den acht Führerscheininhabern, die die Nazi-Diktatur überlebt hatten.

Doch nicht alle hatten Glück: Fünf Besitzer wurden ermordet, wie zum Beispiel Alfred Oppenheimer, mit dessen Schicksal sich Luise Birkner und Luise Aumüller beschäftigt hatten. Alfred Oppenheimer wurde im Jahr 1903 in Bad Königshofen geboren und zog später nach Lichtenfels. Am Säumarkt in Lichtenfels, erzählt Luise Birkner, stehe das einstige Wohnhaus der Oppenheimers. „Im Erdgeschoss war das Textilgeschäft untergebracht, heute befindet sich dort ein Jeansladen,“ so Luise Birkner. Die Geschichte der Oppenheimers sei besonders tragisch, denn eigentlich sei die Ausreise von Alfred, seiner Frau Anni und seiner Mutter Betty schon vorbereitet gewesen. „Doch dann wurde er verhaftet.“

Insgesamt sind es dreizehn bewegende Schicksale, die die Schüler recherchiert haben. Die Jugendlichen haben die 13 Lebensläufe auf 13 Bannern abgebildet. „Wir haben bei allen etwas herausgefunden, auch bei denen, die es nicht geschafft haben,“ berichtet Lukas Franke. Manche Biografien, wie die von Theo Nordhäuser, konnten nur bruchstückhaft rekonstruiert werden. „Der Kaufmann aus Altenkunstadt wurde 1942 ermordet und hatte keine Nachkommen“, erzählt Sophie Rauh.

Die Spurensuche führte die Schüler nach Australien, Argentinien und in die USA. Victoria Thiel und Clara Aumüller haben zum Beispiel in Amerika Inge Stantons, eine geborene Marx, gefunden. Sie war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Familie Lichtenfels verlassen musste. Ihr Vater Alfred Marx war in der Stadt ein angesehener Geschäftsmann.

Inge Stantons gehört zu den neun Hinterbliebenen, die von weit her zu einem Festakt nach Lichtenfels angereist waren, um dort die Führerscheine ihrer Vorfahren entgegen zu nehmen. „Es war sehr emotional,“ erzählt Victoria Thiel. Von bewegenden Momenten berichtet auch Francesca Schütz, als sie die Enkeltochter von Leo Banemann am Nürnberger Flughafen abgeholt habe. „Es sind Tränen geflossen. Tränen vor Wut und vor Freude. Es war ein Gefühl, als ob wir uns ewig kennen würden“. Und es sind Freundschaften entstanden, zwischen den Schülern und den Angehörigen. In einer WhatsApp-Gruppe erzählen sie sich gegenseitig aus ihrem Leben. Die Schüler erfahren so auch von jüdischen Bräuchen, wie zum Beispiel dem Chanukka, einem Lichter- und Feuerfest.

Das jüdische Leben und damit auch die Bräuche sind in Lichtenfels längst erloschen. Doch seit einigen Wochen erinnern Stolpersteine daran, dass hier einst Juden lebten. Auf den kleinen goldenen Platten sind auch die Namen einiger Führerscheininhaber geschrieben.

Aber lebendig wird die Geschichte auch durch die 14 Schüler des Meranier-Gymnasiums: Durch die Wanderausstellung und in einer 100-seitigen Sammelmappe. Darin sind Fotos, Briefe, Postkarten und bewegende Geschichten der Juden zu sehen und zu lesen.

Ein Jahr lang haben die Schüler nach Unterrichtsende geforscht und haben doppelt so viel Zeit wie bei einem „normalen“ P-Seminar investiert. Zeit, die sich gelohnt hat, das P-Seminar- Geschichte hat die Jugendlichen verändert. „Wir wussten ja schon einiges aus dem Geschichtsunterricht, doch plötzlich hatten die Menschen einen Namen und ein Gesicht“, so Luise Birkner. Lukas Franke fügt hinzu: „Das Seminar hat uns die Augen geöffnet.“ Mit konkreten Personen werde der Nationalsozialismus eben viel realer. Und das dürfe sich niemals widerholen.

Das P-Seminar Geschichte 2017/ 2018:

Francesca Schütz, Julia Mehrmann, Antonia Voll, Laura Kolenda, Luise Birkner, Victoria Thiel, Clara Aumüller, Sophie Rauh, Luise Aumüller, Simon Bornschlegel, Manfred Brösamble-Lambrecht, Markus Betz, Dennis Brosig, Jan Höppel, Lukas Franke.

Die Führerscheine gehörten:

  • Leo Banemann, Kaufmann aus Burgkunstadt
  • Arthur Goldmeier, Viehhändler aus Lichtenfels
  • Manfred Goldmeier, Kaufmann aus Lichtenfels
  • Max Hellmann, Kaufmann aus Lichtenfels
  • Jenny Kraus aus Lichtenfels
  • Josef Kraus, Kaufmann aus Lichtenfels
  • Alfred Marx, Geschäftsmann in Lichtenfels
  • Sigmund Marx, Geschäftsmann aus Lichtenfels
  • Theo Nordhäuser, Kaufmann aus Altenkunstadt
  • Alfred Oppenheimer, Kaufmann aus Lichtenfels
  • Leo Wolf, Kaufmann aus Altenkunstadt
  • Berta Zinn, Fabrikdirektorsgattin aus Lichtenfels
  • Stefan Zinn, Fabrikdirektor aus Lichtenfels

von Gabi Arnold

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