Vor zehn Jahren bricht ein Großbrand in der Coburger Altstadt aus. Der Dachstuhl der Herrngasse 12 steht in Flammen. Florian Kirchner wohnt in dem brennenden Haus, Steffi Cestone verkauft nebenan Mode. Im Dezember 2012, ein halbes Jahr nach dem Inferno, haben wir uns mit den beiden unterhalten. Zehn Jahre später blicken wir noch einmal zurück …
Pfingstsonntag, 27. Mai 2012: Ein Gerippe aus verkohlten Balken ragt in den Frühlingshimmel, Dächer sind eingestürzt, Glutnester glimmen, aus den Fenstern steigt Qualm auf. Um die 300 Feuerwehrleute sind mit Löscharbeiten beschäftigt. Ungläubig und fassungslos starren Menschen auf das Szenario in der Herrngasse. Historische Häuser, einige erst kurz vorher saniert, sind Opfer eines Flammeninfernos geworden.
Ein Tag zuvor: Die Teilnehmer des COBURGER CONVENT und ihre Freunde feiern ausgelassen in der Innenstadt, nichts ahnend, dass Stunden später Teile der Altstadt in Flammen stehen werden. Nur einen Steinwurf entfernt vom Coburger Marktplatz.
Es ist der frühe Sonntagmorgen, als um 1.18 Uhr ein Notruf in der Rettungsleitstelle eingeht: „Die Innenstadt brennt.“ In der Altstadt stehen historische, denkmalgeschützte Häuser eng beieinander. Sie wurden einst mit leicht entflammbaren Materialien wie Fachwerkwerkbalken und in Lehmbauweise errichtet. Die Bebauung ist verwinkelt und dicht, die Innenhöfe sind schwer erreichbar. Gastronomie, Geschäfte und kleine Läden sind hier angesiedelt und Wohnungen bezogen. Als an diesem Frühlingsabend bei Cestone nachts gegen halb zwei das Telefon klingelt, feiert sie mit Freunden und Familie das zweijährige Jubiläum ihres Ladens. Mit der Eröffnung ihrer Boutique hat sich Cestone im Jahr 2010 einen Traum erfüllt. Der Anruf beunruhigt sie zunächst nicht weiter. „Ich habe gedacht, vielleicht ist ein Kochtopf oder Ähnliches vergessen worden, ein kleines Feuer eben.“ Sie macht sich auf den Weg in die Stadt, um die Lage zu prüfen. Aus der Ferne erhellen lodernde Flammen den Nachthimmel. Cestone ist geschockt, sie kann kaum fassen, was sie da sieht.
„Es war surreal. Als ich das Inferno gesehen habe und die Menschenmassen, habe ich gedacht, ich bin jetzt im falschen Film.“
Etwa 80 Anwohner werden in der Nacht aus ihren Wohnungen geholt, teilweise stehen sie in Schlafanzügen, barfuß, in Decken gehüllt auf der Straße, sie weinen und blicken entsetzt auf das Szenario. Die Freiwillige Feuerwehr ist mit Löscharbeiten beschäftigt, das Technische Hilfswerk, Ärzte und Seelsorger kümmern sich um Anwohner, Gastronomen schenken Tee aus und bieten Hilfe an. „Es war sofort sehr viel Solidarität und Unterstützung da.“ Immer wieder betont Cestone, wie groß die Welle der Hilfsbereitschaft war, die noch in der Brandnacht angerollt ist. Cestones Laden befindet sich unmittelbar neben der Herrngasse 12, im Erdgeschoss der Herrngasse 10. In der Dunkelheit sieht sie nicht, ob und wie stark ihre Boutique beschädigt ist. Sie harrt bis morgens früh um sechs Uhr aus und sieht, wie die vielen Einsatzkräfte der Feuerwehr versuchen die Flammen in den Griff zu bekommen. Dann geht sie nach Hause und sinkt völlig erschöpft ins Bett.
Am nächsten Tag hofft sie, dass es ihr Geschäft nicht so schlimm erwischt hat. Immerhin ist die Scheibe des Schaufensters intakt. Als sie den Laden betritt, sieht sie, dass das Löschwasser durch die Decken und Wände gedrungen ist, es steht zentimeterhoch in den Deckenlampen. Es riecht unangenehm und beißend. Diesen Geruch wird sie auch ein Jahr nach dem Brand noch in der Nase haben. Sie realisiert, dass ihre Einrichtung und ihre Ware vom Löschwasser komplett zerstört sind. Ihre gesamte Kollektion muss im Müll entsorgt werden. Doch viel betroffener macht sie das Schicksal der Anwohner.
„Für die Anwohner war das natürlich noch viel schlimmer, weil die haben ja ihre Wohnung, ihr Zuhause verloren.“ Steffi Cestone
Florian Kirchner wohnt im zweiten Stock in der Herrngasse 12. Dort, wo in dieser Nacht der Dachstuhl lichterloh in Flammen steht. Wir treffen uns mit Kirchner in der Möhre 27. In den Räumen wird er demnächst mit einem Partner vegane und vegetarische Speisen anbieten. Das neue Lokal soll ein wenig Großstadtflair in die Vestestadt bringen. Bei einer Tasse Kaffee unterhalten wir uns über den Brand, der es vor zehn Jahren in die Tagesschau geschafft hat. Kirchner ist erstaunt, wie schnell die Zeit seitdem verstrichen ist. „Das ist echt schon wieder zehn Jahre her“, sagt er. Er arbeitet noch immer als Informatiker in der IT-Branche und mittlerweile ist er Vater einer kleinen Tochter. Das Pfingsten 2012 ist präsent, als sei es gestern gewesen.
In der Brandnacht halten sich im Erdgeschoss Gäste in der Cocktailbar „Gingers“ auf, im zweiten Stock leben Kirchner, sein Bruder und dessen Freundin. An diesem Pfingstwochenende sind die Bewohner nicht zu Hause. Kirchner vergnügt sich mit Freunden feuchtfröhlich auf der Bergkirchweih in Erlangen, sein Bruder genießt mit seiner Partnerin Urlaubstage in der Ferne. Als Kirchner morgens auf sein Handy schaut, zeigt das Display über 100 Nachrichten und Anrufe an.
„Früh bin ich aufgewacht und habe gedacht, okay, etwas muss passiert sein.“ Flo Kirchner am Morgen nach dem Brand
Er ruft zurück und erfährt, dass in Coburg in der Herrngasse 12 ein Großbrand ausgebrochen ist. Es handelt sich um das Haus, in dem sich sein Hab und Gut befindet. Wie groß das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung sein könnte, malt sich Kirchner nicht aus. „Es muss ja nicht heißen, dass es etwas Extremes ist“, denkt er. Eigentlich war ein Besuch bei seinen Eltern in Bad Neustadt geplant, jetzt steigt der 25-Jährige in seinen „Mini“ und fährt nach Coburg. Dort zeigt ihm der damalige Oberbürgermeister Norbert Kastner Luftaufnahmen, die den Schaden erahnen lassen. „Ja, das ist meine Wohnung, da ist mein Wohnzimmer“, denkt Kirchner. Realisieren kann er es immer noch nicht.
Als er ankommt, sind noch um die 300 Einsatzkräfte mit dem Löschen beschäftigt. Mittlerweile sind fünf Häuser zwischen der Herrn- und der Steingasse betroffen. In der Nacht hat sich das Feuer rasant auf die umliegenden Häuser verbreitet, auch im Coburger Puppenmuseum ist eine Zwischendecke eingebrochen. Wegen drohender Einsturzgefahr darf Kirchner seine Wohnung nicht betreten. Er überlegt, ob er seinen Bruder anrufen soll, lässt es aber zunächst bleiben. „Ich habe gedacht, wenn sie zurückkommen, dann haben die ja keine Wohnung mehr.“ Schließlich bekommt Kirchner grünes Licht, sich für 15 Minuten in Begleitung der Feuerwehr, in seiner Wohnung aufzuhalten. „Und dann bin ich rein und dann wurde mir erst so richtig bewusst: ‚Okay, da ist ja wirklich nichts mehr übrig, beziehungsweise durch das Löschwasser und den Ruß unbrauchbar‘.“
Er rettet, was zu retten ist. Viel ist es nicht. Kirchner holt einen Ordner mit den wichtigsten Dokumenten und füllt zwei blaue IKEA-Taschen mit den Dingen, von denen er glaubt, dass sie noch intakt seien, inklusive ein paar Klamotten. Der Geruch wird beim Waschen nicht aus der Kleidung verschwinden und sie wird später im Müll landen. Fest steht: Florian Kirchner hat in dieser Brandnacht fast alles verloren, was er besessen hat; darunter viele persönliche Erinnerungsstücke, Fotos und das Ledersofa von seiner Oma. Dennoch sagt er heute: „Es waren nur materielle Dinge, es ist niemand zu Schaden gekommen.“ Er habe den Brand gut verarbeitet, sagt er mit einem nachdenklichen Bick.
„Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht da war. Du erlebst das anders, wenn Du nachts aus dem Schlaf gerissen wirst und auf der Straße steht und siehst, wie das Haus abbrennt und Du nichts machen kannst.“ Florian Kirchner, zehn Jahre nach dem Brand
Kirchner wohnt eine Woche lang bei einem Kumpel und schläft dort auf der Couch. Danach bezieht er mit seinem Bruder eine Wohnung in der Hindenburgstraße. Er erlebt in dieser Zeit eine große Welle an Hilfsbereitschaft und Unterstützung. Die Abwicklung mit der Versicherung läuft reibungslos und er bekommt von einer Möbelfirma ein neues Sofa geschenkt. Alle Dinge des alltäglichen Lebens kauft er neu, und er merkt, wie wenig man eigentlich benötigt. „Ich kann schon sagen, dass sich meine Einstellung zum Konsum geändert hat. Man braucht nicht wirklich viel.“ Nach circa zwei Jahren zieht er in seine alte Wohnung zurück und wohnt dort bis zum Jahr 2019.
Es dauert ein Jahr, bis Cestone ihre Boutique wiedereröffnen kann. In der Übergangszeit verkauft sie ihre Ware im Wäscheladen von Marlene Wolf. Die Kunden halten ihr in dieser Zeit die Treue, dafür sei sie unendlich dankbar, betont sie. Der Großbrand habe lange nachgewirkt. „Immer wenn ich die Feuerwehr gehört habe, habe ich gedacht, oh Gott, hoffentlich nicht schon wieder.“ Cestone war es ein Herzensanliegen, sich bei allen Helfern zu bedanken, sie organisiert zum Dank im Jahr 2013 ein Fest in der Herrngasse. Mit weit über tausend Besuchern wird es ein großer Erfolg. Heute ahnt man nicht mehr, dass in der Altstadt vor zehn Jahren ein Feuer gewütet hat, auch dank des fränkischen Automobilzulieferers Brose, der Millionen gespendet hat, um die Herrngasse wieder im alten Glanz erstrahlen zu lassen. „Es ist die schönste Gasse in Coburg“, ist Cestone überzeugt. Kirchner ist froh, dass er heute positiv über die Ereignisse reden kann. Für beide steht fest: „Es hat sich gezeigt, wenn es hart auf hart kommt, hält Coburg zusammen.“