Und plötzlich bist du ausgelöscht!
Zu Beginn war es die große Liebe, Schmetterlinge schwirrten im Bauch umher und man versprach sich die ewige Treue. Ein Jahr, nachdem Harald* und Sabine sich Hals über Kopf verlieben, heiraten sie. Wieder ein Jahr später wird Tochter Julia geboren und zwei Jahre danach folgt Sohn Benedikt. Das Glück scheint perfekt. Doch fortan dreht sich das Leben um die beiden Kinder, besonders Sabine geht in ihrer Mutterrolle auf. Harald fühlt sich in der Ehe allein und beginnt eine Affäre mit einer Kollegin. Schließlich verlässt er seine Frau und zieht zu seiner neuen Liebe. Harald ahnt nicht, dass er mit der Trennung seine Kinder kaum noch sehen wird.
Nach der Scheidung bekommen beide Eltern das Sorgerecht und anfangs besuchen Julia und Benedikt ihren Vater noch regelmäßig. Doch Sabine leidet unter der Situation, sie hat Angst, die Kinder an die neue Familie ihres Ex-Mannes zu verlieren. Systematisch hält sie die Kinder vom Vater fern, erfindet Ausreden und manipuliert die Kinder, bis sie nicht mehr zum Vater möchten. Fälle wie diese passieren immer wieder. Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts haben in Deutschland 17 Prozent der Trennungskinder keinen Kontakt mehr zum anderen Elternteil und 25 Prozent nur selten.
Wenn ein Elternteil die Kinder gegen den Partner instrumentalisiert, spricht man vom Parental Alienation Syndrom (PAS). PAS wurde erstmals in den 1980er Jahren von Richard Gardner beschrieben, einem amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiater. PAS ist abzugrenzen von Fällen, bei denen ein Kontaktabbruch zu einem Elternteil angebracht ist oder dieser sogar sein muss. Das ist zum Beispiel bei Gewalt oder sexuellem Missbrauch der Fall.
„PAS entwickelt sich nur dann, wenn ein Kind – bewusst oder unbewusst – vom betreuenden Elternteil in einen starken Loyalitätskonflikt getrieben, der Umgang mit dem anderen Elternteil massiv erschwert wird und das Kind durch seinen Wunsch, den Kontakt zu behalten, Schuldgefühle entwickelt.“ (Ärzteblatt.de)
Die Geschichte von Sabine und Harald ist ein klassisches Beispiel. Menschen verlieben sich, ziehen zusammen, vielleicht heiraten sie, mit den Kindern kehrt der Alltag ein, manchmal zerbrechen Träume. Bei einer Trennung sind immer auch Trauer, Enttäuschung und oft auch Wut im Spiel. Jetzt geht es darum, den Streit eben nicht auf den schmalen Schultern der Kinder auszutragen.
Nach einer Studie des Bundesfamilien-Ministeriums leben 84 Prozent der Kinder in Deutschland nach Trennung bei der Mutter. Das heißt auch, dass von PAS überwiegend Männer betroffen sind. Im sozialen Netzwerk Facebook tauschen sich Betroffene aus. Ein Blick in die Community „Entfremdung Eltern Kind – PAS = Psychische Gewalt“ zeigt, wie belastend die Situation ist. Betroffene Väter, die aus dem Leben der Kinder verbannt werden, fühlen sich wie ausgelöscht.
Im Februar 2020 thematisierte der ARD-Film „Weil du mir gehörst“ die Eltern- Kind-Entfremdung. Der Film erzählt, wie die kleine Anni mit Lügen und Intrigen vom Vater ferngehalten wird und ihn schließlich nicht mehr besuchen möchte, obwohl die Liebe zum Vater ein Jahr zuvor noch völlig unbeschwert war. Im anschließenden Talk gehen Experten in die Tiefe und zeigen auf, wie schwerwiegend die Folgen für alle Betroffenen, aber besonders für die Kinder sein können. Der Psychologe Stefan Rücker findet drastische Worte: Eltern-Kind-Entfremdung sei ein Verbrechen an der seelischen Entwicklung von Schutzbefohlen, sagt er in der Talkrunde. „Die Folgen reichen von Traumatisierungen bis zu Störungen im Sozialverhalten, Depressionen, Angsterkrankungen.“
Dabei sei schon die Trennung der Eltern für die Kinder belastend genug, schreibt das Magazin „Ratgeber Kind Familie“. Indem ein Elternteil dazu beitrage, den anderen Elternteil zu hassen und nie wieder sehen zu wollen, werde die Situation für die Kinder noch schlimmer.
Amelie* hat das erlebt: Als sich ihre Eltern vor 14 Jahren trennen, entfacht sich ein verbitterter Kampf um das Sorgerecht. Der 25-jährigen Philosophie-Studentin fällt es nicht leicht über ihren Vater zu reden. „Ich kenne ihn nicht wirklich“, sagt sie nachdenklich. Als die Eltern nach jahrelangen Streitigkeiten endgültig einen Schlussstrich unter die Ehe ziehen, möchte der Vater das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter. „Er hat ständig nur noch schlecht über meine Mutter geredet. Ich war mit der Situation komplett überfordert“, denkt sie zurück. Amelie belastet die Situation so stark, dass sie schlecht schläft, von Alpträumen geweckt wird und sich kaum noch auf den Unterricht konzentrieren kann. „Ich habe mich so hilflos und alleine gefühlt“, erinnert sie sich. Amelies Vater erreicht mit seinen Versuchen, seine Tochter auf seine Seite zu ziehen, das Gegenteil. „Je mehr er über meine Mutter geschimpft hat, umso mehr habe ich mich von ihm abgewandt“, sagt sie. Bei einem Gerichtstermin habe ihr Vater versucht, der Mutter Inkompetenz in der Erziehung anzudichten, sagt Amelie.
Nach der Scheidung zieht Amelie zu der Mutter; die Besuche beim Vater werden zu einer reinen Pflichtaufgabe und immer seltener. „Es ging ihm nicht gut, einmal hat er geweint. Ich habe gedacht, das sei meine Schuld,“ sagt sie. Amelie fühlt sich bei ihrem Vater nicht wohl, da er nicht mit den Vorwürfen gegen die Mutter aufhört. „Ich sehe ihn heute etwa zweimal im Jahr beim Geburtstag meiner Oma. Er hat jetzt eine neue Familie“, sagt sie. Die Beziehung zum Vater könne man als zerrüttet bezeichnen, sagt die 25-Jährige und fügt hinzu: „Es ist belastend, wenn der Vater immer fremder wird.“ Mittlerweile hat Amelie eine Therapie gemacht, um die Situation aufzuarbeiten. „Es kehrt immer wieder zurück, dann wache ich nachts auf und habe Angst“, sagt sie. So unterschiedlich die Geschichten von Eltern-Kind-Entfremdung sind, eines haben alle gemeinsam: Es gibt nur Verlierer!
*alle Namen von der Redaktion geändert