Grenzerfahrungen – Ausgelöscht #44

Plötzlich sind 50 Jahre Leben einfach weg!

Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf und können sich an nichts mehr erinnern. Sie wissen nicht, wo Sie sind, wer Sie sind, Sie kennen weder ihre Familie noch ihre Freunde. Alle Ihre Erlebnisse – schöne und weniger schöne – sind ausgelöscht. Von der Festplatte des Gehirns nicht mehr abrufbar. Genau das ist Manuel „Bobby“ Fischer passiert. Der Coburger Unternehmer stand mitten im Leben, bis ein Ereignis alles verändern sollte.

Wir treffen Bobby Fischer in seinem Unternehmen ComWer in Neustadt bei Coburg. Er begrüßt uns herzlich wie gute alte Bekannte und erzählt uns seine Geschichte. Alles, was vor dem 25. November 2018 passiert ist, kann er nur aus Erzählungen wiedergeben; er selbst erinnert sich nicht.

Fischer feiert an diesem Tag seinen 51. Geburtstag. Am späten Nachmittag moderiert der damalige Manager des BBC Coburg in seiner Funktion als Hallensprecher ein Heimspiel in der HUK-COBURG arena. Noch während des Spieles verliert er scheinbar ohne Ankündigung sein Bewusstsein. „Ich bin irgendwann vor der Treppe umgekippt und war weg.“ Ein Arzt und Sanitäter, die vor Ort sind, versorgen ihn sofort und alarmieren den Rettungswagen. „Ich hatte Glück im Unglück, das hätte auch beim Spaziergehen im Wald oder während der Autofahrt passieren können“, sagt er, blickt nachdenklich und fügt hinzu: „Dann würden wir uns vermutlich heute nicht gegenübersitzen.“

Ein Hubschrauber bringt Fischer in die Uni-Klinik nach Erlangen mit dem Verdacht auf einen Hirnschlag. Als Fischer nach einigen Stunden aufwacht, stecken Kanülen und Kabel im Körper, durch die Medikamente fühlt er sich schläfrig. Er erinnert sich nicht, was ihn aber zunächst nicht beunruhigt. „Man kann es schwer beschreiben, mir hat ja eigentlich nichts gefehlt.“ Seine Partnerin Janine besucht ihn einen Tag später – er fragt sie, wer sie sei. Fischers Erinnerung ist ausgelöscht, 50 Jahre seines Lebens sind verschwunden, Gesichter und Namen nicht mehr vorhanden. Er weiß nicht, wer seine Partnerin ist, wer seine Eltern sind, oder dass er zwei Kinder hat. Fischer leidet an einer retrograden Amnesie. Das bedeutet, dass das autobiografische Gedächtnis nicht abrufbar ist, man sich an zurückliegende Ereignisse nicht mehr erinnern kann. Betroffen davon ist nur ein Teil des Gehirns. Alles Unbewusste, alles Alltägliche und Erlernte bleibt bestehen. Dieser Zustand kann vorübergehen, aber auch dauerhaft bleiben. Bei Fischer denken die Ärzte zunächst an eine vorübergehende Amnesie. „Ein Gedächtnisverlust sei die ersten Tage normal und nicht so schlimm“, habe es geheißen, so Fischer.

Die Neurologen untersuchen Fischer in den folgenden Wochen von Kopf bis Fuß, testen und prüfen alle Funktionen. Sie schließen zum Beispiel einen Hirnschlag, einen Herzinfarkt oder Herzrhythmusstörungen aus und finden keine plausible Erklärung für den Auslöser. „Je mehr ausgeschlossen wurde, umso mehr Fragezeichen gab es“, so Fischer. Letztlich gibt es keine eindeutige Diagnose und damit auch keine Therapie, und somit soll er eigentlich in die hausärztliche Behandlung entlassen werden. Die Ärzte überweisen ihn auf Drängen seiner Partnerin dann doch in die psychiatrische Abteilung zur weiteren Abklärung.

„Du bist ja der Hauptprotagonist in deinem Leben, dein Körper meldet sich, du musst nur zuhören.“

„Den Fuß immer voll auf dem Gaspedal“

Die Amnesie bleibt bestehen und je länger der Gedächtnisverlust anhält, umso mehr treten auch psychische Probleme auf. Der Zustand belastet Fischer zunehmend, er fällt von einem Loch in das nächste. Bis es zu einem Schlüsselerlebnis kommt: Fischer sitzt wieder einmal bei einer Psychologin, beide unterhalten sich. Plötzlich fällt ihm auf, dass sie nichts mehr notiert, sondern Striche auf ihr Blatt zeichnet. Fischer will wissen, warum sie das tut. Die Psychologin antwortet, jeder Strich stehe für das Wort „muss“ in seinen Ausführungen – es sind sehr viele Striche, die sich auf dem Blatt aneinanderreihen.

Jetzt fällt es Fischer wie Schuppen von den Augen: Er hatte sich vor dem Vorfall in einem Hamsterrad bewegt, fast pausenlos funktioniert. 14, 16 und bis zu 20 Stunden am Tag Arbeit waren keine Seltenheit, an Schlaf war kaum zu denken, freie Wochenenden waren Fehlanzeige, stattdessen hatte er „den Fuß immer voll auf dem Gaspedal“. „Ich habe permanent unter Stress gestanden, unter Tinnitus gelitten und nie eine Nacht durchgeschlafen.“ Und das seit vielen Jahren – bis zum Nachmittag des 25. Novembers 2018, seinem 51. Geburtstag.

Jetzt erscheint es logisch, ein Burn-out-Syndrom wird als Ursache vermutet. Die Signale waren da, er hatte sie im Alltagsstress verdrängt. „Du bist der Hauptprotagonist in deinem Leben, dein Körper meldet sich, du musst nur zuhören. Du musst lernen auf die Signale zu hören und damit umzugehen“, sagt er heute.

Fischer beschließt die Situation anzunehmen und entwickelt Strategien, damit umzugehen. Er schaut sich Fotos an und prägt sich die Namen ein. Seine Partnerin, seine Freunde und seine Familie unterstützen ihn. Sein Bruder Michael hilft ihm im Unternehmen, die meisten Mitarbeiter bleiben ihm treu und halten die Firma in dieser Phase am Laufen.

Da der Gedächtnisverlust nur einen Bereich des Gehirns betrifft, sind alle elementaren, erlernten Dinge abrufbar. „Wenn du einmal Fahrrad fahren gelernt hast, dann verlernst du es nicht“, erklärt Fischer. Das bedeutet, er verfügt weiterhin über seine handwerklichen Fertigkeiten und sein berufliches Wissen. In seinem Job ist deshalb er kaum eingeschränkt. Das erleichtert den Wiedereinstieg. Nach einer Dauerkrankschreibung arbeitet der Unternehmer seit November 2020 wieder in seiner Firma, findet Antworten und löst Probleme. Mit einem entscheidenden Unterschied zu früher: Er belastet sich nicht mehr bis an die Grenze, ein Klingelton erinnert ihn, dass es Zeit wird, zu pausieren. Wenn er abends länger im Büro über IT-Fragen brütet oder mit Geschäftspartnern verhandelt, taucht er morgens später auf. Ob jemals seine alten Erinnerungen zurückkehren werden, kann nicht beantwortet werden. „Es ist so weit, wenn es so weit ist“, habe ein Psychologe gesagt. Dieser Satz begleitet ihn und es hilft ihm, dass nichts versprochen wird, was vielleicht nicht eingehalten werden kann.

Der Coburger Unternehmer Bobby Fischer steht wieder mitten im Leben, ist nach wie vor humorvoll, offen und voll Lebensfreude – trotz seiner Amnesie.

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