Ich nutze also bin ich - Titelbild

Ich nutze, also bin ich #20

Über das Ende des Eigentums.

War es das mit dem Eigentum? Brauchen wir nichts mehr, weil wir alles mieten, leihen, nutzen können? Sind wir auf dem Weg zu einer neuen uralten Art des Miteinanders? Die Share-Economy jedenfalls wächst und wächst. Ein Leitartikel von Wolfram Hegen.

Nichts besitzen, alles haben

Der gute alte Proletarier, da ist es wieder: Der Besitzlose. Nur sieht er irgendwie anders aus als früher der Klischeeproletarier aussah. Der Besitzlose von heute hat keine Lumpen am Leib, keine Furchen im Gesicht, keinen bellender Husten. Der Besitzlose von heute kommt hipp daher, cool, modern, vital, gesund, gebildet, lebenslustig, mehrsprachig. Der Besitzlose von heute reist, chattet, erlebt. Er besitzt nichts und hat doch alles. Alles zumindest, war heute wertvoll ist: Erlebnisse, Erfahrungen, Soziale Kontakte, Ideen. Nicht mal mehr Geld im heutigen Sinne braucht er. Es gibt Bitcoins. Eine gegenstandslose Welt oder besser: eine Welt, in der Gegenstände nicht mehr auch Selbst-, sondern wirklich nur noch Mittel zum Zweck sind, in der man sie nur noch nutzt aber nicht mehr besitzen muss. Man leiht, mietet, teilt. Eigentum hat seinen Status als Symbol verloren. Eigentum hat seinen Wert verloren. Mehr noch: Eigentum belastet, verpflichtet, bindet – und das belastet, verpflichtet, bindet. Das kann in einer globalen auf maximale Flexibi- und vermeintliche Individualität ausgerichteten Welt doch keiner gebrauchen.

Voll auf die Ohren: Musik gibt’s heute umsonst.

Ewiggestrige Dummköpfe

Eigentum ist wie ein vollgepackter unförmiger Rucksack, der dem Erlebnishungrigen beim Gipfelsturm auf den Berg des Lebens das Kreuz verbiegt und den Schweiß tropfenweise in die Augen rinnen lässt, wo er wie Feuer brennt und einen klaren ungetrübten Blick unmöglich macht. Schade um die schöne kurze Zeit. Und vor allem wozu? Auf dem Gipfel kann man ohnehin nicht endlos ausharren. Soll man seinen mitgeschleppten Rucksack bewundern? Wäre doch schade um die schöne Aussicht. Der Besitzlose von heute hat das verstanden. Nennen wir ihn den Besitzlosen 4.0. Er lebt quasi postmateriell, freilich ohne auf Materielles zu verzichten. Ganz im Gegenteil, aber wozu selbst haben: Lass doch die Eigentümer ihr Eigentum besitzen. Lass sie die Arbeit machen. Der Besitzlose 4.0 ist doch auf der Statusskala mittlerweile ganz oben angekommen, bewundert, im besten Fall beneidet. Der Eigentümer dagegen – ewiggestriger Dummkopf. Übertrieben? Vielleicht. Und doch sind alte Werte schon längst auf dem Prüfstand, werden umgewertet. Es geht mehr ums Nutzen, weniger ums Haben.

Der Besitzlose 4.0

Eine Zeitgeist-Erscheinung, dokumentiert durch zahlreiche Sachbücher in den Regalen der Buchläden. Weniger ist mehr, Entschlacken in. Die „Share-Economy“ hat in den letzten Jahren schwindelerregende Höhen erreicht, obwohl das Prinzip des Teilens und Tauschens ja so uralt ist wie die Menschheit selbst. Doch nicht zuletzt die sozialen Medien und mit ihnen unzählige Plattformen haben das Teilen auf eine neue evolutionäre Stufe gehoben: Wo man sich früher unter Nachbarn, Freunden, in der Familie, im Verein, der Landwirtschaft oder in anderen räumlich eng vernetzten Strukturen Dinge teilte, gemeinsam nutzte, verlieh oder auch mal tauschte, passiert das jetzt in der digitalisierten Welt sekundenschnell online, weltweit und unter wildfremden Menschen. Und nicht nur mit Rasenmähern, Anhängern oder Küchenmixern, sondern mit Häusern, Autos, Urlauben. Der erlebnishungrige Besitzlose 4.0 trifft online auf den Hauseigentümer, der ihm ein paar Tage Wohnrecht einräumt. So freut sich der Besitzlose 4.0 über eine Woche in einer Luxusvilla, die er sich nie hätte leisten können oder wollen. Und zur Luxusvilla fährt er vom Flughafen mit einem Privattaxi, das er sich auch nicht hätte leisten können oder wollen. Und ein eigenes Auto erst recht nicht. Der Besitzlose kann sich auf diese Art und Weise viel mehr Erlebnisse einkaufen als sein Budget eigentlich hergibt. Und der Eigentümer freut sich, weil er Leerzeiten in einem seiner Häuser oder Autos kapitalisieren kann, um sich noch mehr Häuser und Autos zu kaufen.

Händewaschen war früher

Eine rosarote Blümchenwelt, in der sich alle liebhaben und jeder alles mit jedem teilt? Eine Welt des sozialen Ausgleichs, der friedlichen Koexistenz von Kapital und Besitzlosen? Eine Welt, in der die Eigentümer immer mehr Eigentum haben, dabei immer unglücklicher werden und immer weniger Anerkennung genießen, während die Besitzlosen 4.0 besitzlos bleiben, ein geiles Leben führen und dafür auch noch bewundert werden, weil sie ihre Erlebnisse über soziale Medien mit allen teilen (Facebook für die Älteren, Instragram, Snapshat, Youtube für die Jüngeren), was der Eigentümer aus Angst vor Einbruch, Diebstahl, Mord und Totschlag natürlich lieber unterlässt? Natürlich nicht, es ist ein Geschäft wie jedes andere auch: Du gibst mir, ich zahl dafür. Was früher (und auch heute noch) unter Nachbarn ein (unausgesprochenes) Geschäft auf Gegenseitigkeit war und ist, man sich gegenseitig die Hände wäscht, wird in der Share-Economy zu Geld gemacht. Denn das Geschäft hat Potential.

Autos an jeder Straßenecke

Geteilt wird überall: Musik wird geteilt, wer zahlt noch, wenn er die aktuellsten Songs bei Spotify nach Ertragen eines Werbespots kostenfrei hören oder bei amazon prime den aktuellen Blockbuster im Heimkino gegen eine Gebühr anschauen darf, für die er sich mit seiner Familie weder einen Kinobesuch noch die DVD hätten leisten können, mal abgesehen davon, dass er auf die Lieferung hätte warten müssen. Wer kauft sich noch ein Auto, wenn erst einmal genug Fahrzeuge an der nächsten Straßenecke stehen, die man mit einer Karte nutzen und irgendwo wieder abstellen kann. Winterreifen, Service, Tanken – nicht mein Problem. Wer bucht noch ein teures Hotel, wenn er billiger und exklusiver privat wohnen kann. Nur wenige von vielen Beispielen, bei denen Sharing schon Alltag ist. Fachleute gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte der Bundesbürger Sharing-Angebote nutzen. Und weil die meisten davon jung sind, wird schon rein demografisch gestützt die Zahl immer mehr steigen. Aber nicht nur die Zahl der Nutzer steigt, auch die Zahl der Anbieter. Nachfrage sucht Angebot, Angebot indet Nachfrager.

Der Sharer 4.0

Und die Anbieter werden zunehmend Privatleute: Es kann ja quasi jeder zum, nennen wir ihn, Sharer 4.0 werden, der eine Bude, ein Auto, eine Bohrmaschine in seinem Eigentum hat. Die meisten Zeit steht die Wohnung aber leer, das Fahrzeug sinnlos an der Straße oder die Bohrmaschine rostet vor sich hin. Also denkt sich der Sharer 4.0: „Da mach ich Kohle draus.“ Vielleicht aber kann nicht nur bald jeder Eigentümer zum Sharer 4.0 werden, sondern muss er es sogar. Weil die Zeit der Zweit-, Dritt- und Viertjobs ohnehin steigt, weil das Geld zu einem Leben, wie es einem die Besitzlosen 4.0 ja tagtäglich im neuesten Post vormachen nicht mehr reicht, man aber gerne auch so leben möchte: Reisen, Erlebnisse, und dazu der Genuss von teuren Marken und immer den aktuellsten Produkten. Diese Sharer 4.0 also sind Leidtragende. Sie müssen ihr bisschen „Hab und Gut“ (ist das heute dann überhaupt noch gut?) vermieten, verleihen, tauschen, um ihr Einkommen aufzubessern, was ja (nicht nur, aber auch) eben auch so niedrig ist, weil mehr gemietet, geliehen, getauscht wird.

Die Katze hat Schmerzen

Da geht es ihnen nicht anders wie gestandenen Unternehmen. Die wenden sich in Zeiten der gesättigten Märkte ebenso dem Geschäftsmodell Sharing zu: es geht um die maximale Auslastung von Kapital und Anlagen. Wenn weniger produziert und verkauft wird, muss das Bestehende eben noch besser monetarisiert werden. Auch, um immer höhere Entwicklungskosten für immer schnelllebigere Produkte überhaupt wieder hereinholen zu können. Alles hängt mit allem zusammen: Vermieten und Teilen bringt Geld in die Kassen, das man dringend nötig hat, weil sich ja mit dem Produzieren und Verkaufen nicht mehr das verdienen lässt wie früher, weil ja eben immer weniger Produkte kaufen, weil sie es ja auch mieten können. Da hat die Katze Schmerzen am Schwanz vom vielen Reinbeißen.

Getauscht wird im Krieg

Gelobt sei, wer aus dem Katzenkäfig ausbricht, gelobt seien die Besitzlosen 4.0. Oder sollten wir uns eher nachdenklich stimmen lassen angesichts dessen, was die Zeit unlängst schrieb: Die Menschen besinnen sich aufs Tauschen, Teilen, Abgeben, Kooperieren, wenn Kriege und Krisen sie an den Rand der Existenz führten. 2008 zur Finanzkrise und in Griechenland 2012 habe man das beobachten können. Auch anderes ist nachdenkenswert: Mieten zum Beispiel steigen, weil sich mit kurzzeitiger Vermietung an Touristen mehr verdienen lässt als mit der langfristigen an die vierköpfige Familie am Existenzminimum. Löhne sinken, weil private selbständige „Taxifahrer“ für anderes Geld arbeiten als Angestellte. Ist das Teilen und Mieten auf der einen und das Nutzen auf der anderen Seite des Marktes also nur eine momentane Zeiterscheinung? Wird sich dieser Markt von selbst regulieren? Nein, das sicher nicht, es ist ein Megatrend, der sich weiter verstärken wird. Und der auch Chancen bietet.

Schöne andere Welt

Wenn weniger produziert wird, wenn Ressourcen besser genutzt werden, sollte es weniger Müll geben. Wenn jeder für dasselbe Geld mehr nutzen kann, sollte der Zugang zu modernen Technologien, zu Bildung, zu Erfahrungen leichter sein als bisher. Wenn bestehende monopolartige Anbieterstrukturen aufgebrochen werden, sollte das zu besserer Qualität bei günstigeren Preisen führen. Wenn Nachbarschaftshilfe digital auf neue Beine gestellt wird, wenn die kleinteilige Lebensmittelversorgung gerade auf dem Land auf mehrere Schultern verteilt wird, wenn Nahrungsmittel vor dem Verfall mit anderen geteilt werden, dann sollte das doch zu einer besseren Versorgung führen. Wenn alles das einträfe, dann sollte das Teilen und Nutzen doch zu einer besseren, weil sozialeren Welt führen, oder? Zum „collaborative lifestyle“, dessen Statussymbole nicht mehr materieller Natur sind, sondern ideeller. Einem Lebensstil, der den Besitzlosen 4.0 mit dem Sharer 4.0 zusammenführt: Zusammenarbeit, Nutzen und Teilen, Geben und Nehmen.

Übertrieben? Vielleicht.

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