Sonderthema Gerechtigkeit: Interview mit Hartmut Guhling

Im Namen des Volkes

Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat im Januar 2023 entschieden, dass das Pflegegeld nicht zum Arbeitseinkommen zählt und deshalb nicht gepfändet werden darf. Auch dann nicht, wenn ein pflegender Angehöriger überschuldet ist. Das würde dem Ziel widersprechen, Anreize für häusliche Pflege zu schaffen und die Pflegebereitschaft von Angehörigen zu erhöhen. Im konkreten Fall ging es um eine verschuldete Mutter, die für die Pflege ihres autistischen Sohnes ein Pflegegeld bezieht. Die Beschwerde des Insolvenzverwalters wurde zurückgewiesen. Es handelt sich um eines der Urteile, die der IX. Zivilsenat in jüngster Zeit gefällt hat. Insgesamt besteht der BGH aus dreizehn Zivil- und sechs Strafsenaten und 153 Richtern (davon 19 Vorsitzende Richter). Der BGH ist das oberste deutsche Gericht und damit die letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren. Einer der Vorsitzenden Richter am BGH ist Hartmut Guhling, der im Landkreis Coburg wohnt. Wir haben mit ihm über seine Arbeit gesprochen. Guhling ist seit August 2013 als Richter am Bundesgerichtshof tätig. Seitdem ist er für das Familienrecht, das Betreuungsrecht und das gewerbliche Mietrecht im XII. Zivilsenat zuständig. Im Februar dieses Jahres wurde er zum Vorsitzenden Richter am BGH berufen.

COBURGER: Herr Guhling, seit wann leben Sie in der Region Coburg und warum?

Ich bin Anfang 1996 in die Region gezogen, als ich beim Amtsgericht Kronach meine erste Richterstelle angetreten habe, und wohne seit Mitte 1998 – da wechselte ich an die Staatsanwaltschaft Coburg, später dann an das Landgericht Coburg – erst in der Stadt und dann im Landkreis Coburg. Meine Familie und ich fühlen uns hier außerordentlich wohl und zu Hause.

COBURGER: Wie war Ihre berufliche Laufbahn? Hatten Sie schon immer den Wunsch, Jurist zu werden?

Nein, als Teenager wollte ich – wie viele Jungs in diesem Alter – Fußballprofi werden, habe aber relativ schnell einsehen müssen, dass es dafür am nötigen Talent gefehlt hat. Nach Abitur und Wehrdienst stand dann für mich der Richterberuf als Ziel fest. Und dazu musste ich Jura studieren und entsprechende Staatsexamina ablegen. Ich habe meine Berufswahl übrigens noch keinen einzigen Tag bereut.

COBURGER: Wie wird man zum Richter am Bundesgerichtshof ernannt?

Welche Qualifikationen muss man für dieses Amt haben? Die Bundesrichter werden durch den sogenannten Richterwahlausschuss gewählt, der sich aus den 16 Länderjustizministern und 16 Bundestagsmitgliedern zusammensetzt. Diese Mitglieder haben ein Vorschlagsrecht; ich wurde damals beispielsweise durch das Bayerische Justizministerium vorgeschlagen. Die Kandidaten werden vor der Wahl durch ein richterliches Gremium, den sogenannten Präsidialrat, auf ihre Eignung geprüft, und zwar nach einem festgelegten Anforderungsprofil. Dort definierte Kriterien sind etwa herausgehobene fachliche Befähigung, langjährige Berufserfahrung, hohe Leistungsbereitschaft und große Belastbarkeit, hohe Sprach- und Schriftkompetenz, Teamfähigkeit sowie ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit.

COBURGER: Seit 2013 sind Sie als Richter am Bundesgerichtshof tätig und seit Februar 2023 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof. Haben Sie den Höhepunkt Ihrer Karriere erreicht?

Schon die Wahl zum Bundesrichter war für mich etwas ganz Besonderes, wovon ich als junger Richter nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Denn die wissenschaftlich vertiefte Befassung mit und die Lösung von rechtlichen Problemen anhand von Einzelfällen, aber mit einer Wirkung für unser gesamtes Rechtssystem empfinde ich als großartige, sehr fordernde und enorm befriedigende Aufgabe. Dass mir nun der Vorsitz des XII. Zivilsenats – zuständig vor allem für Familien-, Betreuungs- und gewerbliches Mietrecht – übertragen wurde, ist natürlich eine zusätzliche Auszeichnung, aber auch eine große Verantwortung.

COBURGER: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? Sie arbeiten die ganze Woche über in Karlsruhe? Wie lässt sich das mit der Familie vereinbaren?

Der Arbeitsalltag ist von den zu entscheidenden Fällen, den Beratungen mit den Senatskolleginnen und -kollegen – wir entscheiden stets zu fünft – und den Verhandlungen geprägt. Es ist sehr viel Lesearbeit zu leisten, aber aus unseren derzeit rund 750 Senatsakten pro Jahr spricht das pralle Leben und es gibt keine Langeweile. Ich arbeite aktuell regelmäßig vier Tage in Karlsruhe und im Übrigen im Home-Office. Damit haben wir uns als Familie arrangiert, so wie andere Familien auch, bei denen ein Mitglied an einem weiter von zu Hause entfernten Ort arbeitet. Und unsere Söhne sind inzwischen ohnehin erwachsen.

COBURGER: Warum ist das Richteramt dennoch attraktiv?

Die Einschränkung „dennoch“ will ich so nicht stehen lassen. Ich halte das Richteramt für ohne Abstriche attraktiv, zumal keine Richterin und kein Richter zu einer solchen örtlichen Pendelei gezwungen wird. Im Gegenteil: Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit des Richters verbietet derartigen Zwang, und die richterliche Unabhängigkeit in der Sache ist für mich das große Plus des Berufs. Ich kann – und muss – den jeweiligen Fall so entscheiden, wie ich es für richtig halte und bin dabei nur dem Gesetz, aber sonst niemandem verpflichtet. Als Richter komme ich mit einer unglaublichen Vielfalt an Sachverhalten, an Schicksalen und an spannenden Problemen in Berührung. Ich begegne einer großen Zahl von Menschen. Und ich kann zur gerechten Lösung von Konflikten beitragen. Insgesamt ist das einfach erfüllend.

COBURGER: Worin unterscheiden sich der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht?

Die beiden Gerichte haben ganz unterschiedliche Aufgaben. Der Bundesgerichtshof entscheidet letztinstanzlich in Zivil- und Strafsachen. Ihm ist in diesen Rechtsgebieten die Wahrung der Rechtseinheitlichkeit, aber auch die Entscheidung grundsätzlicher Rechtsfragen und die Rechtsfortbildung anvertraut. Das Bundesverfassungsgericht gehört hingegen nicht zum sogenannten Rechtszug. Ihm obliegt allein eine verfassungsrechtliche Überprüfung insbesondere von Gesetzen und gerichtlichen Entscheidungen, so dass der Prüfungsmaßstab sehr stark eingeschränkt ist.

COBURGER: Wieso ist Karlsruhe der Sitz der obersten deutschen Gerichte?

Das hatte ganz praktische Gründe: Nach dem 2. Weltkrieg musste ein geeigneter Standort für den Bundesgerichtshof gefunden werden, weil Leipzig – Sitz des früheren Reichsgerichts – wegen der Teilung Deutschlands nicht in Betracht kam. Und Karlsruhe hatte wohl das beste „Paket“ – mit dem erbgroßherzoglichen Palais ein angemessenes Dienstgebäude, genügend Wohnungen für die Richter und die Universität Heidelberg in der Nähe – anzubieten. Für das ein knappes Jahr später eröffnete Bundesverfassungsgericht war Karlsruhe dann die logische Wahl, weil etliche Richter am Bundesgerichtshof auch Bundesverfassungsrichter wurden und man zudem eine gemeinsame Bibliothek nutzen konnte. Inzwischen ist Leipzig übrigens der Sitz von zwei Strafsenaten des Bundesgerichtshofs.

COBURGER: Der Bundesgerichtshof ist das höchste Gericht der Bundesrepublik Deutschland und damit letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren. Kann ein BGH-Urteil dennoch angefochten werden, wenn sich neue Fakten, Beweise, Ermittlungsmethoden oder DNA-Spuren ergeben?

Eine Anfechtung im engeren Sinne gibt es nicht. Unter sehr strengen Voraussetzungen kann aber ein Verfahren wiederaufgenommen werden. Die von Ihnen genannten neuen Erkenntnisse können vor allem in Strafsachen relevant sein, wobei sie bis Ende 2021 nur eine Wiederaufnahme zugunsten eines wegen einer Straftat Verurteilten erlaubt haben. Inzwischen hat der Gesetzgeber bei besonders schweren Delikten – Mord, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen eine Person – auch eine Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen eingeführt.

COBURGER: Wie erfolgt die Entscheidung, ob eine Revision zugelassen wird oder nicht? Wie lange dauert es, bis der Bundesgerichtshof eine Entscheidung trifft?

In Strafsachen ist die Revision zum Bundesgerichtshof gegen alle Entscheidungen der großen Strafkammern bei den Landgerichten und gegen die erstinstanzlichen Strafurteile der Oberlandesgerichte – namentlich in Staatsschutzsachen – zulässig. In Zivilsachen ist es etwas komplizierter: Es gibt Verfahren, in denen das Gesetz die Anrufung des Bundesgerichtshofs für stets zulässig erklärt, etwa wenn eine Berufung als unzulässig verworfen worden ist. Ansonsten kann die Vorinstanz – also das Berufungs- oder Beschwerdegericht – die Revision bzw. Rechtsbeschwerde zulassen, insbesondere wegen Grundsatzbedeutung des Falles. Und schließlich gibt es in Zivilsachen die sogenannte Nichtzulassungsbeschwerde, mit der das Vorliegen eines Zulassungsgrundes geltend gemacht werden kann und auf die hin die Revision vom Bundesgerichtshof zugelassen werden kann. Und was die Verfahrensdauer anbelangt: Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wie komplex der Fall ist, wie viele Beteiligte es gibt und ob eine Verhandlung stattfinden muss. Die Spanne kann von mehreren Monaten bis zu – im Ausnahmefall – zwei Jahren reichen.

COBURGER: Welche Fälle werden am häufigsten am Bundesgerichtshof verhandelt?

Das lässt sich so nicht sagen. Jeder Zivilsenat ist für spezielle Rechtsgebiete zuständig und hat daher seine jeweiligen Verhandlungsschwerpunkte. Insgesamt decken die Verhandlungen am Bundesgerichtshof praktisch die komplette Breite von Straf- und Zivilrecht ab. Bei uns im Senat werden vor allem Unterhalts- und Güterrechtssachen sowie Gewerberaummietfälle mündlich verhandelt, während wir in vielen anderen Bereichen – etwa im Betreuungs- und Unterbringungsrecht oder in Kindschafts- oder Personenstandssachen – regelmäßig ohne eine mündliche Verhandlung entscheiden.
COBURGER: Welche Fälle sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Da möchte ich keinen einzelnen Fall herausgreifen, zumal die rechtlich besonders anspruchsvollen Fälle oft in tatsächlicher Hinsicht nicht so spektakulär daherkommen. An etwas allgemeiner gehaltenen Beispielen dessen, was uns in den letzten Jahren beschäftigt hat, kann ich aber die rechtlichen Folgen von Leihmutterschaften, den Umgang mit Patientenverfügungen, die rechtliche Behandlung des dritten Geschlechts oder die Auswirkungen der Coronapandemie auf gewerbliche Mietverträge nennen.

COBURGER: Wie hat die Coronapandemie die Arbeit am BGH beeinflusst?

Wie in allen anderen Lebensbereichen auch war das Miteinander, war die Zusammenarbeit deutlich eingeschränkt. Gerade weil wir immer zu fünft entscheiden und der Entscheidung häufig eine intensive Diskussion vorangehen muss, hat uns das vor Probleme gestellt. Wir haben das gelöst, indem wir unsere Senatsberatungen in großen Räumen bei weiten Abständen und mit vielen Lüftungspausen durchgeführt haben. Mit regelmäßigen Selbsttests und großer Disziplin aller Senatsmitglieder hat das letztlich sehr gut funktioniert. Inhaltlich hat Corona uns natürlich einiges an Fällen – sowohl im Familien- als
auch im Mietrecht – beschert.

COBURGER: Urteile fallen im Namen des Volkes, aber es gibt eine Reihe von Urteilen, die für Bürger unverständlich sind oder als ungerecht empfunden werden. Wie definieren Sie den Begriff Gerechtigkeit?

Erst einmal: Ich habe nicht den Eindruck, dass es „eine Reihe von Urteilen“ sind, sondern nach meiner Wahrnehmung – sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld – trifft die Arbeit der Gerichte generell gesehen auf eine große Akzeptanz. Hiervon unterscheiden muss man, dass ein an einem Streit Beteiligter regelmäßig seine subjektive Sicht auf einen Sachverhalt hat, die mitunter nicht mit dem Ergebnis eines Rechtsstreits übereinstimmen wird. Diese subjektive oder auch „gefühlte“ Gerechtigkeit können Gerichte nicht herstellen, und sie sollen es auch nicht. Vielmehr geht es in einem Gerichtsverfahren darum, einen Konflikt nach den Regeln zu lösen, die unser Gemeinwesen hierfür vorsieht – und damit nach unserer Rechtsordnung. Im Idealfall soll das auf dieser Grundlage erzielte Resultat die Interessen der Streitbeteiligten und der Allgemeinheit in einen angemessenen Ausgleich bringen. Ich möchte stets erreichen, dass ein neutraler Leser unserer Entscheidung sagt: Ich verstehe, warum so entschieden wurde, ich kann nachvollziehen, dass so entschieden wurde und mein Gerechtigkeitsgefühl schlägt nicht Alarm, weil so entschieden wurde.

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